Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
zu schätzen. Aber im Moment habe ich alles, was ich brauche. Gib sie jemandem, der sie braucht. Gib sie in meinem Namen. Die Schönheit der Tasche wird den Kummer eines Trauernden lindern.«
Er nahm sein Bündel auf und wandte sich zum Gehen, doch Stehender Mond hielt ihn am Ärmel fest.
»Sonnenjäger, kommst du morgen wieder? Kannst du für meinen Sohn singen? Er ist so klein. Ich …«
»Ich werde es versuchen, Stehender Mond. Aber es, gibt so viele Kranke im Dorf, die kränker sind als dein Sohn. Das verstehst du doch?«
Sie nickte, aber ein trauriger Schimmer lag in ihren Augen. »Ja. Ich … ich verstehe.« Kaum hörbar fügte sie hinzu: »Danke, Sonnenjäger.«
Sie blickte zu ihm empor, als glaubte sie, er könne das Sternenvolk vom Himmel holen.
Er streichelte ihren Arm. »Ich möchte, daß du mir einen Gefallen tust. Ist das möglich, Stehender Mond?«
»Was denn?«
»Du hast einen halben Mond lang die Kranken gewaschen, für sie gekocht und dich um sie gekümmert. Du siehst so aus, als würdest du beim nächsten Schritt vor Müdigkeit umfallen. Wenn ich Gute Feder hierherschicke, um nach deiner Familie zu sehen, wirst du dann versuchen, so lange wie möglich zu schlafen? Diese Krankheit sucht sich die Schwachen und Übermüdeten. Aber du mußt für uns stark bleiben.«
Ihr Kinn zitterte, Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ja. Noch einmal vielen Dank, Sonnenjäger.«
Er machte einen großen Schritt über einen Stapel aus Felldecken, der von der Bank zu Boden gerutscht war, und schlüpfte durch den Zelteingang hinaus. Draußen stach das Sonnenlicht schmerzhaft in seine Augen. Im Schatten des Zeltes blieb er kurz stehen und sog die frische Luft in tiefen Atemzügen ein.
Gute Feder stand auf ihren Gehstock gestützt dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Die Blätter der Kletterpflanzen hatten zu sprießen begonnen. Gegen diesen frischen, grünen Hintergrund sah Gute Feder braun und verfallen aus. Sie beobachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen.
Sein Bündel gegen die Brust gedrückt, überquerte er den Dorfplatz. »Du wolltest mit mir sprechen, Tante.«
Gute Feder nickte, sagte aber nichts.
Er wartete einen Moment, dann meinte er: »Ich habe Stehender Mond versprochen, daß du nach ihrer Familie sehen würdest, während sie schläft. Ist das in Ordnung?«
»Ja, natürlich.«
»Gut.« Er wechselte unbehaglich die Stellung. »Wegen dieser Krankheit, diesem nicht enden wollenden Übel … Es ist gerade in …«
Gute Feder stieß ihren Gehstock viermal krachend zu Boden und schob den Kopf auf eine vogelähnliche Art vor. »Weißt du«, begann sie, »daß es einen Stamm von unsichtbaren Menschen gibt? Sie waren schon in dieser Welt, noch bevor Wolfsträumer geboren wurde. Sie bewegen sich wie Schatten um die Menschen herum. O ja, sie haben Körper wie wir, und sie benutzen die gleichen Werkzeuge wie wir, aber sie sind keine Menschen. Während wir uns immer darum bemühen, die Welt zu sehen, streben sie danach, sie zu fühlen. Sie werden erst sichtbar, wenn sie sterben.«
»Ich habe diese Geschichte nie zuvor gehört. Und ich verstehe sie nicht. Welche Bedeutung hat sie?«
Gute Feder deutete mit ihrem krummen Finger auf ihn. »Einmal, vor langer Zeit, heiratete eine Menschenfrau einen der unsichtbaren Männer. Er war ein guter Ehemann. Er liebte sie sehr, ging jeden Tag auf die Jagd, und nachts verbrachten sie viele Stunden lachend miteinander. Aber diese Frau konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie nicht wußte, wie ihr Mann aussah. Deshalb fühlte sie eines Tages, als er schlafen gegangen war, nach seiner Brust, nahm ihren Atlatl und trieb einen Speer in seine Lunge. Danach konnte sie ihn tatsächlich sehen. Ein gutaussehender junger Mann kam zum Vorschein. Erst zu spät erkannte sie, was sie getan hatte, und weinte sich die Seele aus dem Leib. In ihrer Verzweiflung flehte sie Mutter Ozean um Hilfe an. Die Mutter tötete die Frau. Dann nahm die Mutter ihre Seele und band sie mit der des toten Mannes zusammen, bevor sie die Frau wieder zum Leben erweckte. Daher sind, wie du siehst, die Seelen der Menschen halb männlich und halb weiblich.
Doch die andere Hälfte wird erst im Tode sichtbar.« Gute Feder stach ihren knotigen Finger gegen Sonnenjägers Brust. »Wie viele Menschen sind in diesem Dorf gestorben?«
»Heute sechs. Ich weiß nicht, wie viele in den vergangenen zwei Wochen gestorben sind.«
»Heute nur Frauen, oder?«
»Nur Frauen.«
Gute Feder spitzte die faltigen
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