Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
Markant und athletisch, mit muskulösen Armen und in ein schönes goldfarbenes Wapitilederhemd gekleidet, stand er vor ihr.
Ja, vor fünf Jahresumläufen. Damals war ich dreizehn Sommer alt.
Es war während der Hochzeit ihrer besten Freundin Seidenschwanz im Mond-der-neuen-Hörner gewesen. Turmfalke war damals seit zwei Monden mit Stechapfel verheiratet. Sie war noch immer trunken vor Aufregung, daß ein dreimal älterer Mann sie begehrte. Ein Mann, der weit und breit als bedeutender Händler berühmt war. Er war freundlich zu ihr gewesen, hatte sie mit wundervollen Geschenken überhäuft, schöner als alles, was sie sich je hatte vorstellen können.
Turmfalke hatte sich ein besonders schönes Kleid genäht. Es war aus weichem, weiß gebleichtem Hirschleder mit einem leuchtenden, rotgrünen Sternenmuster aus Stachelschweinborsten auf der Brust.
Ihre mit Fransen versehenen Leggings paßten dazu. Sie hatte ihre geflochtenen langen Haare über den Öhren zu Schnecken gelegt und mit Haarnadeln aus Mammutelfenbein festgesteckt. Ihre Mutter hatte gesagt, sie sehe so strahlend aus wie einer vom Sternenvolk.
Sie hatte Seidenschwanz beim Ankleiden geholfen, war dann aus ihrem Zelt geschlüpft und auf den Dorfplatz zu Stechapfel gelaufen. Er hatte in der Nähe des großen Kochfeuers gestanden und zugesehen, wie das Hinterviertel eines Waldbisons über den Flammen gebraten wurde. Von dem Duft war Turmfalke das Wasser im Mund zusammengelaufen.
Stechapfel erzählte gerade lachend die Geschichte seiner letzten Handelsreise zum Volk der Masken weit im Norden. Er war zufällig zwischen eine Kurzschnauzenbärin und ihr Junges geraten. Die Bärin hatte Stechapfel gejagt, bis er sich auf allen vieren in ein Loch flüchten konnte, das unterirdisch zu einem Netz von Lavagängen führte. Dort mußte er drei Tage lang bleiben und sich von Moos und Fledermäusen ernähren, bevor die Bärin aufgab.
Die jungen Männer um ihn herum hörten ihm hingerissen zu. Turmfalke war voller Stolz.
Als sie Stechapfel erreichte, lächelte sie ihn an und legte seinen Arm um ihre Taille. Sie fühlte sich so sicher, wenn sie seinen Arm auf ihrer Hüfte spürte. Sie erinnerte sich, daß sie zu ihm emporgeblickt hatte, als wäre er Alter-Mann-Oben, und nur den einen Wunsch hatte, er möge ihrer niemals überdrüssig werden. Mehr als alles andere in der Welt wollte sie ihm gefallen.
Es trafen mehr und mehr Leute ein, die sich um das Kochfeuer versammelten. Turmfalke wurde von Verwandten aus entfernteren Dörfern begrüßt. Sie berichtete ihnen lächelnd die neuesten Ereignisse und erzählte dann unter großem Gelächter von den Streichen, die sie und Seidenschwanz als Kinder ausgeheckt hatten.
Seidenschwanz schlüpfte aus ihrem Zelt und begann, von allen Dorfbewohnern gefolgt, den Hochzeitsgang zur Mitte des Dorfes, wo sie mit ihrem künftigen Gatten Geweihsprosse zusammentraf.
Von dort ging der Zug weiter zum Fuß der schroffen roten Klippen westlich des Dorfes. Hier blieb die Menge stehen und sah zu, wie Seidenschwanz und Geweihsprosse zu Altes Stachelschwein hinaufkletterten, der die weiße Hochzeitshaut über ihre Schultern legte. Stechapfel hatte Seidenschwanz die prächtigen Seeohrschneckengehänge geschenkt, die von den Rändern der Hochzeitshaut herabhingen und im schwächer werdenden Licht der Nachmittagssonne rosa leuchteten.
Turmfalke lächelte und klatschte in die Hände, als Seidenschwanz das Nimm-mich-an-der-Hand-Lied zu singen begann. Geweihsprosse wiederholte nach ihr jeden der Verse:
Nimm mich, nimm mich, nimm mich an der Hand.
Ich habe deinen Weg gekreuzt.
Der Atem von Alter-Mann-Oben hat uns zusammengebracht,
heute zusammengebracht.
Sein Wasser-Atem,
Sein Samen-Atem,
Sein starker Geist-Atem
Sein Macht-Atem
Sein Atem allen Glücks
hat uns heute zusammengebracht.
Nimm mich, nimm mich, nimm mich an der Hand.
Ich bitte um deinen Atem,
ich gebe dir meinen.
Gemeinsam erhebt sich unser Atem zu Alter-Mann-Oben.
Er gibt seinen Atem dazu.
Nimm mich, nimm mich, nimm mich jetzt bei der Hand.
Atem war Leben. Nichts Wertvolleres konnten sie einander geben. Freude erfüllte Turmfalke.
Um besser sehen zu können, ging sie mehrere Schritte zur Seite, von Stechapfel weg. Andere Leute stellten sich dazwischen, und sie verlor ihn aus den Augen. Turmfalke stellte sich auf die Zehenspitzen, um Seidenschwanz über die Schulter von zwei Männern hinweg zu beobachten. Einer der Männer er war zwei oder drei Sommer älter als sie und sah
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