Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
beschäftigt.«
Danach waren beide zunächst einmal still. Balsam kratzte sich beklommen hinter dem linken Ohr, und Berufkraut hantierte mit seinem Atlatl. Er legte einen Speer ein und nahm ihn wieder heraus. Er hatte den langen, geglätteten Weidenschaft mit schönen, schwarzen Elsternfedern befiedert, die, wenn die Sonne sie im richtigen Winkel traf, grünlich schillerten.
»Weißt du«, sagte Balsam, »einer von uns könnte ihn ablenken, während der andere den Wildwechsel hochläuft und ihn mit seinem Speer durchbohrt.«
Offensichtlich hatte der Fremde Balsams Bemerkung gehört. Er öffnete in aller Ruhe seine neuen Hirschlederhosen, zog sein männliches Organ heraus, als wollte er es in Aktion treten lassen, und pinkelte vom Rand der Felshöhle hinunter. Der Strahl brach sich in schimmernde Tröpfchen. Nur eine Körperlänge vor Berufkrauts Füßen traf er plätschernd auf. Wütend starrte Berufkraut die gelben Spritzer an.
Entrüstet musterte Balsam Berufkraut: »Was wird wohl dieser räudige Hund tun? Meinst du, er wird denjenigen angreifen, der versucht, den Wildwechsel emporzuklettern?«
Beide Jungen machten gleichzeitig kehrt, um das Tier einzuschätzen. Der Hund hatte sich auf die Hinterbeine gesetzt und schaute sie, ein kahles Ohr aufmerksam aufgerichtet, unverwandt an.
»Möglich«, räumte Berufkraut ein. »Aber ich werde meinen Speer in sein Herz schleudern, bevor er deinen Hals zwischen die Kiefer bekommt. Mach dir keine Sorgen.«
»Meinen Hals?«
Der Fremde stieß einen rauhen Schrei aus, der sie beide erstarren ließ. Wieder breitete er seine Arme wie zur Begrüßung zum Himmel aus, als stiege gerade eine lange verloren geglaubte, geliebte Person aus den Wolken herab.
Balsam blickte argwöhnisch empor. »Warum macht er denn das?«
»Wie soll ich das wissen?«
Wie ein Wolf auf einer Schweißfährte stieß der Fremde einen langen und atemlosen Schrei aus. Dann:
»Geht weg, Jungs! Ich will euch hier nicht. Ich will überhaupt niemanden hier. Laßt mich allein!« Er machte auf den Fersen kehrt und verschwand in der Höhle.
Berufkraut schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter. »Er ist wirklich ein verrückter alter Mann. Er muß der Grund dafür sein, daß die Mammuts verrückt geworden sind. Gar nicht auszudenken, was er mit der Traum-Höhle gemacht hat. Bestimmt hat er alles entweiht, was auch immer dort heilig war.«
»Dann sollten wir ihn besser dort herausholen, und zwar schnell.«
Berufkraut erfaßte aus den Augenwinkeln eine Bewegung und konnte gerade noch »Lauf!« rufen, bevor der Speer an seinen Ohren vorbeizischte. Der Fremde warf vom Eingang der Höhle aus noch einen Speer und noch einen. Berufkraut rannte mit auf dem Rücken hüpfendem Bündel auf den nahen Wald zu und warf sich Hals über Kopf in ein Gewirr übereinanderliegender Bäume. Äste krachten, Splitter regneten auf ihn herab, als er sich vorwärts drängte, um hinter einen umgestürzten Baumstamm zu kommen, von dem aus er sicher zur Höhle zurückschauen konnte. Zwei weitere Speere schlugen schwirrend in das Astgestrüpp vor seinem Gesicht ein.
Balsam kroch mit weit geöffneten Augen neben ihn. »Wie kann ein einziger Mann Speere so schnell hintereinander abschießen und dennoch richtig zielen?«
»Er ist wirklich gut.«
Balsam leckte sich nervös über die Lippen. »Vielleicht… vielleicht ist er kein Mensch, Berufkraut.
Hast du daran schon gedacht? Vielleicht ist er der Geist. Erinnerst du dich, wie Klebkraut sagte, daß Geister hier auf warmes Fleisch lauern?«
»Nun, soll er doch herunterkommen und versuchen, meines zu holen. Auf die Art könnte ich meinen Speer aus der Nähe in ihn jagen. Aber er scheint es nicht eilig zu haben, sich uns zu nähern.«
Berufkraut beugte sich vor und spähte durch das Gewirr kahler Äste. Der Fremde war wieder verschwunden. »Ich habe eine Idee.«
»Was für eine?«
»Siehst du die riesigen Felsbrocken da oben auf der rosa Klippe? Jene, die genau über der TraumHöhle vorsteht? Komm, heute nacht schlafen wir da oben, und morgen früh …«
»Oben auf den Felsen? Da wird es heute nacht kälter sein als ein Wapitihuf im Winter«, warf Balsam ein. »Warum können wir nicht hier auf der Wiese schlafen?«
Berufkraut begann, auf allen vieren aus dem Gewirr kahler Äste zu kriechen. Bei jeder Bewegung knackten Zweige. »Nun, bleib nur da. Aber in der Dunkelheit werde ich nicht gut genug sehen können, um den Hund zu treffen, bevor er seine Zähne in dich schlägt.«
Der
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