Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
Älterwerden. Die jungen Männer, die drehen sich nicht mehr nach mir um, aber mit den Frauen komme ich jetzt besser zurecht als früher. Mit Frauen hatte ich damals nur Ärger, besonders wenn ich mich nachts mit ihren Männern wegschlich.«
»Verleugne niemals die eigene Natur, Mädchen! Das ist es, was mich das Leben gelehrt hat.«
Muschelschale kratzte sich wieder am Kopf und nahm ein Stück Holz auf. »Folge deiner Seele und deinen Fähigkeiten. Ich war die schönste und begehrteste Frau zu meiner Zeit. Die Männer kamen von überall, nur, um mich zu sehen.«
Ihr Kopf wackelte nicht mehr. »Kannst du dir das vorstellen, Mädchen? Die Männer kamen von weither, einfach nur, um mich zu sehen.«
»Das war doch sicher herrlich.« Halte die Alte bei Laune. Sie hat uns immerhin ein warmes Bett geboten, wenn's auch schmutzig war, und einen Tag zum Ausschlafen. Da konnte man sich auch ein paar verrückte Geschichten anhören.
Muschelschale blickte sie an. »Du siehst ziemlich elend aus, Mädchen. Aber das wird bestimmt vorübergehen. Den Zauberer zum Freund zu haben - was Besseres kann dir doch gar nicht passieren.«
»Man ist hinter uns her.«
»Hier findet euch niemand.«
»Und wenn sie unseren Spuren folgen?«
Muschelschale kratzte sich wieder am Kopf. »Verdammte Läuse.«
Sternmuschel erstarrte; plötzlich juckte es sie am ganzen Körper.
Aber Muschelschale ging darüber hinweg. »Sorg dich nicht um Spuren, Kind. Als ihr hier wart, hat es gleich wieder geschneit. Alle Spuren sind längst zugedeckt. Wenn ihr nicht weggeht, kann kein Mensch was wissen.«
Sternmuschel spürte einen brennenden Juckreiz in ihrem Haar.
»Was ist mit deiner Familie? Kommen die nicht her, um dich zu besuchen?«
»Nicht, wenn's schneit.« Muschelschale kicherte leise. »Die warten sicher erst den Frühling ab. Das machen sie jedes Jahr so. Ich glaub, die hoffen, mich hier bis auf die Knochen abgeknabbert zu finden.
Dann brauchen sie mein Feld nicht mehr bestellen und mir im Herbst auch keinen Anteil der Ernte bringen.«
Sternmuschel schaute sich in der kleinen Hütte um. Da waren ein paar einfache Töpfe, ohne Ornamente. Ein alter Grabstock mit abgestumpfter Spitze stand an der Wand. Mehrere Stoffsäcke hingen an Querstreben, die meisten mit Löchern.
»Was machst du den ganzen Winter hier draußen?« »Ich red meistens mit dem alten Hund und den Mäusen.« Muschelschale kratzte sich wieder. »Der alte Hund da, der ist der letzte Mann in meinem Leben. Aber sieh ihn dir an. Schläft die ganze Zeit. Kann kaum laufen, geschweige denn rennen. Aber er kann zuhören.«
Sie schmatzte wieder. »Und die Mäuse, die hören auch richtig zu. Nicht wie die meisten Menschen, deren Seele voller Sorgen ist. Manchmal kämpfen die Mäuse miteinander, und ich weiß, sie kämpfen um mich… so wie früher die Männer.«
Sternmuschel rutschte unbehaglich hin und her, unangenehm berührt von den Erzählungen der Alten.
Muschelschale redete weiter: »Meistens sitze ich einfach da und betrachte das Feuer. Im Feuer kann man allerhand sehen. Meistens etwas aus der Vergangenheit. Ich habe das geübt, hab das Feuer jahrelang beobachtet, um den richtigen Blick zu gewinnen. Verstehst du? Wenn du jetzt hineinschaust, kannst du Steinmauer sehen. Genauso war er, bevor ich ihn geheiratet habe, jung und stark. Schau dir seinen Gesichtsausdruck an, genauso sah er aus, als ich ihm die Wassernatter unter die Decke legte.«
Sternmuschel sah nur die Glut. Sie bemühte sich, ein Bild zu sehen, doch sie konnte nichts erkennen.
Dann ahnte sie es. »Du… du hast seinen Namen genannt? Und er ist tot? Hast du keine Angst?«
»Seinen Geist zu rufen?« Sie winkte ab. »Ich habe das seit Jahren versucht. Aber ich glaube, das geht gar nicht. Ich habe die Namen all meiner toten Liebhaber gerufen. Es ist nie einer gekommen.« Sie blickte ins Leere. »Sollen sie mich doch verfolgen und mich bedrängen. Ich wünschte, sie täten's.
Dann könnten wir nachts miteinander reden, uns an die alten Zeiten erinnern.« Sternmuschel war es unbehaglich.
Muschelschale murmelte etwas und kam langsam auf die Beine. Vor Schmerzen zuckte sie zusammen, straffte sich dann aber. »Ein Mensch wird hier draußen etwas knorrig.«
»Knorrig?«
»Ja, wie ein alter Baum. Du weißt doch, mit Knoten und Verkrümmungen. Nicht mehr so wie früher, nein… wirklich nicht.«
Sternmuschel spürte erneut einen Juckreiz hinter dem Ohr und kratzte sich. »Wie lange hast du schon Läuse?«
»Hm? Oh,
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