Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
einen Narren verwandelt?
Als Kind hatte Schwarzschädel an die Macht der Geisterwelt geglaubt. Er hatte zu ihr gebetet, sie möge ihn vor seiner Mutter retten, vor ihrer Abneigung gegen ihn und dem Widerwillen, mit dem sie ihn immer ansah.
Er war als Junge sehr einsam gewesen, konnte sich den anderen Kindern nicht anpassen. Er hatte sich ganz in sich zurückgezogen und sich um so enger seinem Großonkel, seinem einzigen Freund und Wohltäter, angeschlossen.
Von seinem Großonkel - und nicht von der Macht - hatte Schwarzschädel gelernt, wie man sich schützte. Der Großonkel hatte ihm eiserne Disziplin, ständiges Üben und bedingungslosen Gehorsam beigebracht. Damals hatte niemand mehr über Schwarzschädel gespottet. Am Ende triumphierte er - sogar über seine Mutter.
Was würde sein Großonkel sagen, wenn er Schwarzschädel jetzt sähe, wie er die Verantwortung bei dem waghalsigen Unternehmen eines Narren trug, verantwortlich war für vier Clanälteste, die beim geringsten Anlaß in größte Gefahr geraten könnten?
Er hatte den alten Mann noch vor Augen, so dünn und zerbrechlich wie die Gänsefußstengel vom letzten Sommer. Der Großonkel hatte verstanden, wie sehr Schwarzschädel unter den Demütigungen der Kinder litt, wie tief ihn das Verhalten seiner Mutter verletzte, die ihn schlug und anspuckte.
»Alles in der Welt, mein Junge«, sagte der alte Mann, »unterscheidet sich voneinander. Die Steine, die Bäume, die Tiere und die Menschen. Keine zwei Dinge sind vollkommen gleich. Nicht einmal zwei Samen aus derselben Schote. Das Schicksal trennt sie voneinander.«
Der alte Mann nickte, als wollte er einen Gedanken bestätigen. »Menschenwesen sind wie Samen, alle unterschiedlich. Und so, wie zwei Pflanzen nicht genau gleich wachsen, so werden sich auch zwei Menschen nicht gleichen. Manche, wie die Träumer, haben alte Seelen - Seelen, die gewöhnt sind, über lange Zeit Dinge sehen zu dürfen, die normale Menschen nicht sehen. Einige Seelen sind weiblich, andere männlich, einige sind dazu bestimmt, Händler zu werden, andere Krieger.« Er zwinkerte belustigt. »Und manche sind natürlich einfach dazu bestimmt, Dummköpfe zu sein.«
»Wozu gehöre ich, Großonkel?« Schwarzschädel hatte sich herabgebeugt und ängstlich am großen Zeh des alten Mannes gezogen. Die Antwort war ihm ganz besonders wichtig, denn am Morgen dieses Tages hatten ihn die Kinder in eine Falle gelockt, so daß er in den Schlamm gefallen war, und die Kinder ihn Dummkopf genannt hatten. Noch schlimmer war, daß er seine besten Kleider, vorgesehen für die Zeremonien, getragen hatte. Und auch seine Mutter hatte ihn einen Dummkopf genannt. Ihn so laut beschimpft, daß jeder sie hören konnte, ihn herumgestoßen und dann geschlagen. Als er anfing zu weinen, hatte sie ihn getreten und ihn zur Tür hinaus gejagt. Er war gestolpert und wieder in den Schlamm gefallen.
»Dummkopf! Meinetwegen kannst du im Schlamm liegenbleiben, solange du willst«, hatte sie nur gerufen und ihn getreten.
Er war liegengeblieben und hatte den Geist der Macht um Rettung angerufen.
Dummkopf! Der Gedanke, er würde bis ans Ende seines Lebens dumm bleiben, erfüllte ihn mit Schrecken. Wenn er nicht dumm wäre, würde ihn seine Mutter vielleicht nicht mehr schlagen.
Der Großonkel hatte überlegt und die Lippen fest aufeinandergepreßt. »Ich habe dich beobachtet, mein Junge. Ich habe deine Seele gesehen. Du bist dazu bestimmt, ein Krieger zu sein. Das zeigt sich daran, wie du gehst, wie du deinen Kopf hältst und die Dinge siehst. Du siehst die Welt, so wie sie ein Krieger sieht. Das ist in dir angelegt, mein Junge. Was du mit dieser Gabe machst, ist deine Sache.
Deine Mutter hat versucht, das aus dir herauszuprügeln. Der Geist der Macht hat dir die Seele eines Kriegers gegeben, nun ist es an dir, einer zu werden, egal, was deine Mutter tut.«
»Ein Krieger?« Kein Dummkopf! Seine Mutter, die anderen Kinder - alle hatten unrecht. Sein Großonkel hatte recht gehabt. »Aber wie soll ich das anstellen?« fragte er.
»Du mußt Muskeln und Gelenke trainieren, lernen, Schmerzen zu beherrschen und die Erschöpfung zu besiegen. Du mußt dir Geschicklichkeit und Ausgewogenheit aneignen, das heißt, du mußt deinen Charakter schleifen, so wie man eine Steinaxt schleift, damit sie nicht stumpf wird.« Die Augen des alten Mannes hatten im Schein des Feuers gefunkelt. »Pflichtgefühl, mein Junge, Disziplin, Ordnung und Ehrfurcht!« Dabei hatte er die geballte Faust
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