Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
der Verdreher in seiner Vision etwas gesehen? Warum hatte er sich unter allen Händlern gerade Otter ausgesucht?
»Was hast du?« Rote Mokassins beobachtete ihn genau.
»Nichts. Ich…« Er drückte sie ein letztes Mal an sich. »Alles in Ordnung? Kannst du eine Weile ohne mich auskommen?«
Sie sah ihn forschend an. »Laß Otter zufrieden. Er hat schon genug Schwierigkeiten.«
»Ich will nichts von Otter. Hol dir eine Schale. Die Nacht ist kalt, da tut warmes Essen gut. Ich bin gleich zurück.« Er küßte sie auf die Stirn und nahm sich eine der Holzschalen vom Boden.
»Wohin gehst du ?«
»Ich bringe Grüne Spinne eine Schale Eintopf, du weißt schon, aus Gastfreundschaft.«
»Du meinst, er kommt nicht? Nicht einmal, um sich etwas zu essen zu holen?«
»Keine Ahnung. Aber so weiß er wenigstens, daß wir uns um ihn kümmern.«
»Viertöter, wage nur nicht -«
»Pst! Vertrau mir.«
Ich gehe jetzt ins Haus und frage Grüne Spinne, was er weiß, und wenn ich dabei umkomme!
Er füllte die Schale und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Vor der Tür des Clanhauses saß die Großmutter, eingewickelt in mehrere Decken, und redete mit den vier Clanältesten. Viertöter fühlte ihren Blick auf sich ruhen; sie schien beunruhigt.
»Kann ich helfen?« Alter Sonnenmann stand auf, und dabei hörte man das Knirschen seiner Knochen und Gelenke.
»Ich bringe Grüne Spinne einen Teller Eintopf. Seit seiner Ankunft hat er noch nichts gegessen. Er hält den Weißmuschelclan sonst vielleicht für knauserig.«
Alter Sonnenmann lächelte freundlich. »Ich danke dir für deine Umsicht, Sohn von Blaue Kanne.
Ganz sicher weiß Grüne Spinne deine gastliche und freundschaftliche Geste zu schätzen. Ich werde ihm die Schale bringen, zusammen mit deinen besten Wünschen für sein Wohlbefinden.«
»Danke für deine Liebenswürdigkeit, Ältester, doch ich möchte euer Gespräch nicht unterbrechen.«
»Viertöter«, rief die Großmutter warnend. »Der Clanälteste weiß, was am besten ist. Der Verdreher möchte vielleicht nicht von einem jungen Burschen gestört werden.«
Alter Sonnenmann lächelte noch freundlicher. »Ich verstehe dich, junger Viertöter. Du möchtest ihm persönlich deine Wünsche überbringen. Doch erlaube, daß ich dich begleite. Es ist sicher besser, wenn ich dabei behilflich bin.«
Die Stimme der Großmutter klang jetzt gereizt. »Viertöter, bring die Schale dorthin zurück, wo du -«
Mit einer Handbewegung schnitt ihr Alter Sonnenmann das Wort ab. »Grüne Spinne wird sich ganz bestimmt freuen, ihn zu sehen.«
Als der runzlige Älteste sich durch den Vorhang duckte, fing Viertöter den vernichtenden Blick seiner Großmutter auf. Geduckt trat auch Viertöter ein - und wäre beinahe wieder zurückgesprungen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Grüne Spinne kniete nackt im Schein der schwachen Glut des Feuers. Seine Kleider lagen neben ihm, und vor ihm stand ein Topf mit weißer Farbe. Er hatte seinen Körper mit schwarzer Holzkohle eingerieben und lange weiße Streifen auf Arme und Beine gemalt und die Gelenke von Fingern und Zehen besonders betont. Gerade zog er geduldig Linien, wo die Rippen verliefen. Er glich einem Skelett, das sich aus einem Grab erhoben hat. Ein Skelett ohne Kopf, denn sein Gesicht hatte er noch nicht angemalt.
»Was macht er da?« fragte Viertöter Schwarzschädel, der unbewegt und mit resigniertem Ausdruck an der Tür stand. Das häßliche Gesicht des Kriegers verzog sich. »Der Narr sagt, er male sein Inneres nach außen.« »Wozu?«
»Das weiß ich nicht. Er ist verrückt.« »Hast du ihn gefragt?«
»Natürlich habe ich ihn gefragt. Er sagt, das Fleisch ist wie ein Fallstrick, und er muß es loswerden, bevor er darin gefangen ist. Er meint, in seinen Knochen zu leben, das sei, wie eine Schlinge um den Hals zu haben. Verstehst du das ? Bestimmt nicht. Kein Mensch, der bei Sinnen ist, kann das verstehen.«
Viertöter schluckte mehrmals. »Komm her«, sagte Alter Sonnenmann und lächelte. Der Clanälteste ließ sich vorsichtig auf einer der Bänke zur Rechten des Verdrehers nieder und betrachtete ihn. Dabei leuchteten seine Augen, die von zahlreichen Runzeln umgeben waren, vor Aufregung. Der Verdreher starrte nachdenklich das Weiß auf seinen Fingerspitzen an. Dann wanderte sein Blick zwischen seine Beine. »Also, das ist ja interessant.« Verwirrt schaute er auf. »Was ist mit dem Knochen geschehen?
Ich meine, wo ist er jetzt?«
»Was für ein Knochen?« fragte
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