Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
Sängerling beeilte sich.
Er raste mit rutschenden Pfoten einen überfrorenen Hang hinauf zu einer windigen Kuppe und verengte die Augen vor den eisigen Böen. Sein Rückenfell wurde hin und her gezaust. Er schaute forschend über die schneebedeckten zerklüfteten Gipfel, bis er den richtigen erkannt zu haben glaubte, und zu dem brach er auf.
Warum kommt mir das so fremd vor? Ich weiß, daß das der richtige Berg ist, aber das ist nicht der Pfad, auf dem ich meinem Vater gefolgt bin. Habe ich mich verlaufen?
Er schwenkte um einen vom Blitz getroffenen Baumstumpf herum und galoppierte den glitschigen Hang hinauf, immer die Augen auf den Gipfel gerichtet. Die Höhle sah er nicht…
Sein Erschrecken lähmte die Muskeln und brachte sie zum Erzittern. Er atmete flach und stoßweise. Das muß der Weg sein! Das muß er sein!
Im Fell seiner Pfoten hatte sich Schnee angesammelt, der nun zu Eisklümpchen geworden war, die sich zwischen die Zehen setzten und weh taten, aber er nahm sich nicht die Zeit, sie herauszukauen. Sängerling warf sich durch eine Schneewehe, die ihm über den Kopf ragte, und mühte sich, den steilen Hang mit Sprüngen hinaufzukommen. Nach den langen Tagen ohne etwas zu essen spürte er, wie er den Rest seiner Kraft verlor, den die bebenden Muskeln aufsogen. Er arbeitete sich nach oben und stand schließlich auf einem Felsvorsprung, wo er sich den Schnee aus dem Pelz schüttelte. Ein Dunst aus glitzerndem Weiß umfing ihn, und als der sich auflöste, schaute er in die Höhe. Prickelnde Schauer überliefen ihn. Das war der Gipfel!
Er konnte sich nicht irren. Er sah aus wie ein Speer aus Eis, weiß und zackig.
Sängerling kroch auf dem Sims weiter hinauf, und als er an eine Wiese mit sehr kurzem Gras kam, lief er mit all seiner Kraft, und die rosige Zunge hing ihm baumelnd aus einem Mundwinkel. Es prickelte in seinen Muskeln, als dürsteten sie nach Blut, aber er raste das letzte Steilstück hinauf. Der Gipfel über ihm war jetzt gewachsener Fels. Schnee füllte jede Spalte, und ein Nebel aus windgetragenen Eiskristallen umgab die Spitze mit einem leuchtenden Hof. Da!
Er hätte sie beinahe verfehlt. Seit er das letztemal hier war, waren die Berberitzen gewachsen und überdeckten den Eingang halb - oder tarnten ihn. Das Sternenlicht spiegelte sich grell leuchtend auf den Blättern, die denen der Stechpalme ähnlich waren. Kein Wunder, daß er das dunkle Loch übersehen hatte; es verschmolz mit dem schneebedeckten Hang.
Sängerling zwängte sich durch das Gestrüpp, das sein Fell schmerzhaft zauste. Er ließ eine Kette goldener Haarbüschel auf den Zweigen zurück. Diesmal war der enge Gang pechschwarz und voller Drohung.
Er trottete tiefer hinein, trabte dann hangabwärts und rief: »Hüterin des Schildkrötenbündels! Wo bist du? Ich war früher Kreuzdorn vom Coyote-Clan. Ich -«
»Ich weiß, wer du bist, Sängerling.«
Ihre Stimme kam von überall her, von den Wänden zurückgeworfen und widerhallend in seiner Seele. Sängerling leckte sich nervös über die Schnauze und fiel in eine langsame Gangart zurück. Die Luft wurde wärmer; er hörte die Wassertropfen, die in den dunklen Teich weiter unten fielen. Er ging weiter, einen Schritt nach dem anderen, seine Krallen tappten über den nassen Stein wie in einem Staccato von Pfeilspitzen auf Fels.
Seine Pfoten glitten in wassergefüllte Mulden, die seine Füße benetzten und das Eis zwischen seinen Zehen schmolzen. Es roch sehr seltsam in der Höhle. Aber er kannte diesen besonderen Duft, der auch an zusammengebrochenen Steinmauern haftete und an Totenbestattungen in Erdspalten: der Geruch uralten Verfalls.
»Wo bist du?«
»Komm näher. Ich bin hier. Hier unten.«
Sängerling ging vorsichtig weiter, die Finsternis durchforschend. Das Plop-plop des Wasser wurde lauter. Wie nahe am Teich war er? Es konnte nicht weiter sein als -
Es war wie eine Explosion, als das Silberlicht durch den Einlaß brach und die Höhle berstend in blendende Wellen eines blauen Feuers verwandelte. Er brach zusammen und fand sich am Boden wieder. Leuchtende Türkis-Funken fielen flimmernd herab, taumelten über die Decke und flössen an den Wänden hinunter, um den Höhlenboden zu überglänzen. Der Teich strahlte von innen heraus. Sängerling blickte gebannt darauf und versuchte, sein hämmerndes Herz zur Ruhe zu bringen. Das Wasser war unbewegt. Inmitten des ganzen Feuers bildete es einen stillen Mittelpunkt. War ihm das schon das letzte Mal aufgefallen? Oder war
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