Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
Rückwand des Raums. Der Strahl wird allmählich etwas breiter, entsprechend der näherkommenden Sonnenwende, und bewegt sich in nördlicher Richtung über die Wand, einen Zoll pro Tag. Am Vorabend der Sonnenwende erscheint ein volles Rechteck aus Licht auf der Nordwand. Trotz der großartigen Kultur verfügte der Chaco-Canyon kaum über Bodenschätze. Wasser, Holz und fruchtbare Erde waren kostbar. Als der Canyon am Anfang des zwölften Jahrhunderts seine Blütezeit erreichte, waren diese Rohstoffe nahezu aufgebraucht. Die Chaco-Leute bauten Dämme und Gräben, um das Regenwasser auf ihre Felder zu leiten, und kultivierten besondere Gärten in Seitentälern und auf den Mesaplateaus. Aber als die Bevölkerung auf zweitausend Einwohner angewachsen war, versagte das prekäre Ökosystem der Wüste. Der Canyon konnte seine Bewohner nicht mehr ernähren. Auswärtige Gemeinden, alle durch ein Straßennetz verbunden, brachten eine Fülle von Gütern in den Chaco-Canyon, zusätzlich zu Lebensmitteln, Bauholz, Türkisen und anderen seltenen Mineralien. Die Chaco-Elite kontrollierte auch ein Handelsnetz, das ihr Meermuscheln vom fernen Pazifik sowie Kupferglocken und Macaw-Holz aus Mittelmexiko besorgte.
Selbst viele Gebrauchsartikel wurden eingeführt. Bis zu einem Drittel der Steinwerkzeuge und die Hälfte der keramischen Kochgefäße, die man im Pueblo Alto - in unserem Buch »Großer Platz« gefunden hat, waren aus besonderen Steinen und Tonerden hergestellt, die aus den Chuska-Bergen fünfzig Meilen westlich vom Chaco-Canyon stammen. Viele Keramikwaren kamen aus der Mesa-Verde-Region im südlichen Colorado.
Aus der Baumringdatierung wissen wir, daß zwischen 900 und 1150 die Niederschläge rund um das San-Juan-Becken sehr unterschiedlich fielen. Es kam vor, daß es in einem Dorf ungewöhnlich häufig regnete und man dort einen Überschuß an Nahrungsmitteln erzielte, während ein Nachbardorf, nur wenige Meilen entfernt, unter Dürre und Hungersnot litt. Manche Archäologen vertreten die Theorie, daß der Chaco-Canyon eine Lagerhaus-Funktion hatte und ein Hauptumschlagplatz war. Überschüsse an Nahrungsmitteln aus wohlhabenden Dörfern wurden hier gespeichert und dann an andere bedürftige Gemeinden ausgegeben. Die Theorie klingt ganz vernünftig, zumal heutige Pueblo-Völker, wie etwa die Hopi, immer für einen Dreijahresvorrat an Lebensmitteln sorgen.
Um das Jahr 1130 setzte eine neue Dürreperiode ein. In Wüstengebieten hoher Lagen sind schon kurze Dürrezeiten katastrophal, aber diese dauerte fünfundzwanzig Jahre. Große und kleine Quellen trockneten aus. Der traditionelle Anbau von Mais, Bohnen und Kürbis war gefährdet. Nach Jahrzehnten der Ausbeutung war jedes Stöckchen aufgesammelt, war jedes Stück Unterholz aus dem Boden gerissen worden. Wenn dann tatsächlich Regen fiel, war der freiliegende Humus in Gefahr. Das Wasser schoß die Gräben hinab, schwemmte die ausgelaugte Erde fort und spülte die Neusaaten hinweg. Der Pegel der Chaco-Rinne, die wesentliche Wasserquelle für den Canyon, sank um das Jahr 1150 auf seinen tiefsten Punkt, weniger als vier Meter, und damit sank auch der Grundwasserspiegel. Skelettfunde zeigen, daß die Menschen an Unterernährung litten. Fünfundsechzig Prozent der Erwachsenen und fünfundsiebzig Prozent der Kinder wiesen eine Knochenkrankheit, porotische Hyperostose, auf. Sie wird - neben einer Unterversorgung an anderen Nährstoffen - durch erheblichen Eisenmangel verursacht.
Diese beiden Ursachen, die Dürre und die daraus resultierende Unterernährung, hätten schon ausgereicht, um den Chaco-Canyon zu einer abschreckenden Wohnstatt zu machen; aber es kam noch mehr hinzu.
Etwa eine Viertelmillion Bäume wurden gebraucht, um die Großsiedlungen im Chaco-Canyon zu bauen. Pueblo Bonito allein, die älteste und größte Siedlung, etwa zwischen 920 und 1120 erbaut, war fünf Stockwerke hoch errichtet und hatte achthundert Räume. Pollen- und Samenanalysen zeigen, daß die Chaco-Bewohner das Baumaterial im Canyon und in dessen Umland sehr schnell verbrauchten. Die Zahl der Baumpollen fällt in den letzten hundert Jahren der Niederlassung ganz dramatisch ab, und das heißt, sie haben jeden Baum, den sie nur finden konnten, im Umkreis von zwei bis drei Kilometern gefällt. Man muß außerdem bedenken, daß die Bewohner zweihundert Jahre lang Feuer für ihre Herde und für die Töpferei brauchten, ihre Kivas beleuchten und in den bitterkalten Wintern heizen mußten.
Warum sollte
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