Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
aufschaute, schienen ihre großen Augen fast die Hälfte ihres schönen Gesichts einzunehmen. »Deine Opfergabe heute nacht beweist, daß du dir das Herz einer Wolke erworben hast. Du bist ein Sänger. Dein Volk braucht dich.« Sie stand auf, und ihr rotes Kleid schwang um ihren hochgewachsenen Körper. »Und nun geh! Geh auf dem Wind. Sag deinem Großvater, was du hier getan hast. Was du hier gesehen hast. Er wird dich verstehen.«
Sie machte sich auf, zu dem Pfad zurückzugehen, der um den dunklen Teich herumführte, und Sängerling setzte sich auf. »Warte! Was ist mit meinem Opfer? Nimmst du es an? Wirst du mir helfen, Eisenholz' Leben zu retten?«
Die Hüterin des Schildkröten-Bündels senkte den Kopf. »Wenn du tust, was ich dir gesagt habe, dann wirst du eines Tages ein großer Sänger sein. Mach dein Leben zu einem Opfer, Sängerling. Es wird viel mehr Menschen retten als dein Tod. Später einmal, wenn du kannst, komme hierher zurück. Dann lehre ich dich alles, was ich von Wolken und Tränen weiß.«
Sie schritt weiter auf dem Pfad und verschwand in der Höhlenspalte. Durch den Luftzug ihres Vorbeigehens war der Teich in Bewegung geraten, und Lichttupfer tanzten über die Wände. Sängerling stellte sich auf seine schwachen Beine. Er machte ein paar Schritte in den dunklen Gang zurück, mit hängendem Kopf und wie betäubt.
»Sängerling?«
Ein schwacher Ruf. Er blickte in den Schlund der Höhle zurück, aber da war nur Finsternis. Als er sich durch das Gestrüpp zwängte, hinaus ins helle Mondlicht, fühlte er etwas … wie eine Hand auf der Schulter. Erschrocken fuhr er keuchend herum und betrachtete prüfend die verschneite Wiese und die schimmernden Gipfel, aber…
»Sängerling!«
Mit einem Ruck fuhr er hoch und erwachte, nach Luft ringend und mit großen Augen in den korallenfarbenen Schein der Morgendämmerung starrend. Dunkelgraue Wolken zogen über den östlichen Horizont, den Bauch schon schwach golden eingefärbt. Maisfaser kniete neben ihm. Sie trug einen sauberen schwarzweißen Umhang und Hirschleder-Mokassins. Ein dicker schwarzer Zopf hing ihr über die linke Schulter. Ihre Wunde war verheilt, aber eine häßliche gelbe Druckstelle rings um die rohe rosige Narbe oben auf der Wange war noch zurückgeblieben. Sein Blick glitt von der Narbe zu ihren vollen Lippen, zur spitzen Nase und zu dem oval geformten Kinn. Er setzte sich auf und umarmte sie heftig.
Verzweifelt und erschöpft rief er: »O Maisfaser, ich bin so froh, dich zu sehen.« Das Gefühl ihres schlanken Körpers an seinem tröstete ihn.
Sie schlang die Arme um seine Hüften und drückte ihn an sich. »Ich habe schon gedacht, ich finde dich, wie du dich um dich selber drehst und mit den Armen wedelst wie ein Nachtfalter.« »Diesmal… nun ja, mußte ich lernen, eine Wolke zu sein.«
Sie löste sich sanft und betrachtete ihn genau, als wollte sie feststellen, was ihm diese Verwandlung für Verletzungen eingebracht hätte. Offenbar mit seinem Zustand zufrieden, nahm sie ein Bündel von der Schulter und band die Verschnürung auf. »Ich habe gewußt, daß du am Verhungern bist. Kannst du jetzt etwas essen? Hast du gelernt, eine Wolke zu sein?«
Er nickte; er fühlte sich seltsam leicht und körperlos, aber tief im Innern war ihm schrecklich kalt. »Ja, ich habe großen Hunger. Was hast du mitgebracht?«
Maisfaser setzte sich neben ihn auf den grauen Kalkstein und holte zwei Beutel heraus. »Deine Großmutter Flaumfeder hat mir gedörrtes Hirschfleisch und Reisgrassamen-Brot mitgegeben.« Maisfasers schwarze Brauen zogen sich zusammen, als sie ihm ins Gesicht sah. »Aber du hast viele Tage gefastet, Sängerling. Du ißt am besten nur wenig. Sonst übergibst du dich vielleicht.« »Das nehme ich in Kauf.«
Maisfaser reichte ihm einen Streifen Dörrfleisch und zog einen Darmschlauch mit Wasser hervor. »Trink zuerst, Sängerling. Das polstert deinen leeren Magen etwas aus.«
Sängerling nahm drei kleine Schlucke und gab ihr den Schlauch zurück. »Vielen Dank, das hat gutgetan.« Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und nahm einen kleinen Bissen Dörrfleisch. Sein Magen schrie auf und verkrampfte sich.
Maisfaser betrachtete ihn genau. Hinter ihr segelte ein Adler durch den Morgenhimmel. Seine langen Flügel blitzten golden auf, als er in den Wind eintauchte und nach Westen abtrieb. Sie fragte: »Geht es dir gut, Sängerling?«
Er nahm noch einen kleinen Bissen. »Bis jetzt schon.«
»Fein. Wir haben noch
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