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Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Titel: Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen O'Neal Gear , W. Michael Gear
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einen Hirschknochen-Dolch. »Ich brauche dein Baby, Rehkitz!« »Wovon redest du? Laß mich los!« Sie wand sich wie wild in seinen Armen und sah, wie er den Dolch über seinen Kopf erhob.
    Geduckt und wild um sich tretend kam sie endlich frei und stürmte mit fliegenden Haaren über den Überhang zu den Stufen. Der gesprenkelte Sandstein schimmerte im Licht des Morgens wie geschmolzene Korallen, und jede Ritze, jede Aushöhlung war von Schatten überdeckt. Sie sprang über ein Loch und glitt auf dem Eis aus.
    Der Aufprall gegen Nordlichts Körper schlug sie zu Boden. Sie schrie auf, als der Schmerz durch ihren Leib zuckte. Der Sonnenseher drehte sie mit einem Ruck auf den Rücken und legte sich auf sie. Tränen perlten ihm über die Wangen. Er hielt den Knochendolch ausgestreckt nach Osten, dann nach Süden, nach Westen und Norden und während er ihn zum golden scheinenden Himmel reckte, stieß er ein Gebet hervor. Er hielt ihn eine Weile in die Höhe, wo er im Sonnenlicht glühte. »Nordlicht?« rief sie mit bebender Stimme. »Bitte! Ich tue alles, was du willst. Bitte laß mich gehen!« »Was?« schrie er. Das Entsetzen verzerrte sein Gesicht, als er auf der Mesa umherschaute. »Wer hat das gesagt? Wer bist du? Junge? Junge, bist du das?«
    Wie einer, der einem Alptraum entkommen will, schüttelte er sich, rückte etwas tiefer und setzte sich breitbeinig über sie, die aufgerissenen Augen starr nach Norden gerichtet. Gleich darauf machte er einen kurzen, schnellen Atemzug und blinzelte, als sähe er Rehkitz zum ersten Mal. Das schwarze Haar tanzte auf seinen breiten Schultern.
    »Du bist das Sonnenwend-Mädchen«, flüsterte er ehrfürchtig, und schnell wie der Blitz stach er zu und opferte den Dolch der Mutter Erde durch das Herzblut von Rehkitz.

E RSTER T AG
Sonnenkreis der Libelle, Mond des Gebetstock-Schnitts
Sechzehn Sommer später
    Ich sitze in einer schmalen Auskehlung in der Flanke des Berges, den nackten Rücken gegen den kalten Sandstein gelehnt. Ich sitze hier seit dem Morgengrauen, ohne etwas zu essen, ohne Wasser und ohne die Stimme eines Gefährten, die mich ins Vergessen wiegen könnte,
    Stockkakteen tüpfeln den Boden um mich herum. Es ist Frühling, und purpurfarbene Blüten bedecken Äste und Baumstümpfe und bereichern die Luft mit einem zarten Duft. Tief unten winden sich die Gila-Monster-Klippen in allen Regenbogenfarben nach Osten. Das Licht des frühen Morgens wirft gelbe Farbe in die Schlucht, glitzert auf den weißen und gelben Bergwänden und spielt in den lichtgefleckten Pinien, die das Hochland abdecken. Hier und da sprenkeln blühende Büsche die Hügel mit roter Farbe.
    Zum Norden hin steigt eine häßliche Rauchwolke auf wie eine wogende schwarze Gewitterwolke, die der Westwind über den blauen Himmel jagt. Der Unterbauch der Wolke glüht orangefarben, als käme das Feuer aus ihr selbst.
    Ich kneife die Augen zu, sie tun mir weh. Werde ich Zeuge des Weltuntergangs? Das kann gut sein. Nach allem, was ich gesehen habe…
    Ich bin noch nicht alt, bin nicht vertraut mit den Verhältnissen in der Welt, mit der menschlichen Hinterlist. Ich bin jung, sechzehn Sommer alt. Das ist nicht leicht für mich. Freunde. Feinde. Beide haben mich betrogen.
    Die Krieger meines Großvaters haben sie gefangengenommen und in einen Raum ohne Fenster und Türen gesperrt. Eine Leiter, durch ein Loch im Dach hinunter gestoßen, ist der einzige Zugang und Ausgang. Sie werden dauernd bewacht.
    Mein Volk verlangt von mir, daß ich sie töte.
    Aber einige der Gefangenen… liebe ich.
    »Alle Wunden sind Öffnungen zum Heiligen«, hatte mich der große heilige Mann, Düne, der Heimatlose, einst gelehrt. «Du mußt in diese Risse hineinkriechen. Geh allein, auf Händen und Knien, und setz dich in diese grauenhafte Dunkelheit. Wenn du lange genug sitzt,
    wirst du entdecken, daß der schlimmste Schmerz der Hauch des Mitleidens ist.«
    Also sitze ich.
    Tagsüber beobachte ich die wechselnden Muster des Lichts auf diesen hochragenden Bergen; bei Nacht rühren die Bewegungen der Abendleute silberne Asche in mein Herz.
    Diese Wunde ist wie ein Tor. Ich muß den Mut haben hindurchzugehen - und noch mutiger sein, um über die dunkle Oberfläche der mir vertrauten Welt zu ziehen in ein fremdes Land der Morgenröte, das ich nur mit den Händen meiner Seele erfassen kann.
    Geheiligte Regengötter, ich fühle mich so leer.
    Warum konnte mich Nordlicht, der Gepriesene, nicht einfach sterben lassen? So viele andere wären

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