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Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille

Titel: Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen O'Neal Gear , W. Michael Gear
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der Jahreszeit des Wachsens zurückzuhalten. Gesegnete Sonne, der Herr der Krallenstadt, hatte angeordnet, daß auch der letzte Wassertropfen noch für die Mais-, Bohnen- und Kürbis-Felder bestimmt sei, doch die Pflanzen waren zu Staub verdorrt. Die Quellen waren ausgetrocknet. Die Kinder hatten vor Hunger geschrien. Plünderer und Räuber hatten in der ganzen Wüste gewütet. Auch die Mogollon und die Hohokam waren genau wie die Leute des Rechten Wegs bereit gewesen, für einen einzigen Korb mit Nahrungsmitteln zu töten. Grausige Geschichten machten die Runde: Manche Clans vom Rechten Weg hätten sich in ihrer Verzweiflung dem Kannibalismus ergeben. Sie hätten die Feuerhunde aufgespürt, sie bei Überfällen als Sklaven genommen und dann in bizarren Zeremonien geopfert, um Vater Sonne versöhnlich zu stimmen, bevor sie ihr Fleisch brieten.
    Rehkitz schauderte.
    Nordlicht war selbst von Dorf zu Dorf gezogen und hatte die Leute angefleht, vom Übel zu lassen und zum Rechten Weg zurückzukehren, und sie daran erinnert, daß die Welt schon viermal zerstört worden war. Die Erste Welt war im Feuer untergegangen, die Zweite Welt war vereist worden, die Dritte Welt in Wassermassen ertränkt. Die Vierte Welt war vernichtet worden, als Vater Sonne alle Luft in sich eingesogen hatte. Die Fünfte Welt, in der sie nun lebten, würde auch vernichtet werden, wenn die Menschen ihre Herzen nicht reinigten.
    Der Atem von Rehkitz wurde flacher und schneller. Nordlicht hatte gesagt, Vater Sonne habe ihm erzählt, daß er gigantische Feuerfelsen schleudern würde, um die Fünfte Welt zu zerschlagen. Kies knirschte.
    Nordlicht tauchte im Stufengang auf. Er blieb reglos stehen und starrte mit aufgerissenen Augen und zusammengebissenen Zähnen zum Horizont wie ein Mann, der seinem eigenen Henker gegenübersteht. Das Licht des frühen Morgens färbte sein weißes Hemd ein, so gelb wie die Blütenblätter der Schildblume.
    »Bereit?« fragte sie.
    Er schwankte erschrocken. »Wer - wer bist du? Was machst du hier? Warum bist du nicht weggelaufen?«
    »Ich bin das Sonnenwend-Mädchen, Ältester. Ich trage das heilige Maismehl.« Sie band die vier Säckchen los, die sie als Halsband trug, und hielt sie ihm hin. »Komm. Es ist Zeit!« Nordlicht regte sich nicht. Er starrte sie entsetzt an, als wäre sie ein vorzeitliches Ungeheuer, das ihm aufgelauert hatte.
    Rehkitz nahm die Säckchen, hob seine rechte Hand hoch und legte die Säckchen dort hinein. »Ältester«, sagte sie, »du mußt nach Osten schauen. Ist das nicht richtig?«
    Er antwortete so leise, daß sie es fast nicht gehört hätte. »Ja.« Er wandte sich ab; er zwang sich dazu. Kurz darauf fing er zu singen an. Gestern war der gutaussehende Kriegshäuptling Eisenholz dabeigewesen, um die Trommel zu schlagen; vorgestern hatte der kleine, untersetzte Kriecher, der Anführer des Bison-Clans, die Morgendämmerung mit majestätischer Flötenmusik begrüßt. Heute sang der Sonnenseher allein.
    Nordlicht öffnete das erste Säckchen und sang: »In Schönheit wird es begonnen, in Schönheit wird es begonnen.« Er streute einen Streifen weißen Maismehls in Richtung Osten.
    Das rote Maismehl streute er nach Süden, das gelbe nach Westen und schließlich das blaue Maismehl nach Norden. Dann hob er seine mehlbefleckten Hände zu Vater Himmel, beugte sich zu Mutter Erde hinab und sagte: »In Schönheit wird es enden, in Schönheit wird es enden.«
    Das Mehl wirbelte hoch zu einem leuchtenden Dunstschleier und segelte über den Rand des Canyons hinweg; es funkelte wie feinster trockener Sommernebel, bevor es zu Boden schwebte. Rehkitz wartete. Genauso war es jetzt vierzehn Tage lang geschehen. Nordlicht rief, und Vater Sonne zeigte sich.
    Der Sonnenseher richtete sich auf, kreuzte die Arme über der Brust und murmelte: »Komm, Vater, steig auf und bring der Welt das Leben.«
    Schauer der Ehrfurcht liefen den Rücken von Rehkitz hinunter. Das erste Band geschmolzenen Goldes ergoß sich über den Horizont, die Kuppen und Mesas streiften ihre schwarzen Schatten ab und leuchteten karminrot auf. Die ziehenden Wolken schimmerten orangefarben. Schatten wurden mit einem Schlag lebendig, dunkel und lang und nach Westen ausgerichtet.
    Nordlicht versuchte mit zitternden Händen das Bild des steinernen Pfeilers und der Sonne einzurahmen. Dann ließ er die Hände fallen. Tränen rannen ihm über die Wangen. »Stimmt etwas nicht?« fragte sie.
    »Vater Sonne …« Seine Stimme brach. Er schwieg eine Weile,

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