Vorzeitsaga 08 - Das Volk der Stille
damit fertig war, kam Düne ächzend auf die Beine und humpelte zu Sängerling, dessen Arm er ergriff. Er führte ihn zu zwei Felsblöcken neben dem Fluß. »Hier«, sagte er leise, »setz dich hin, Sängerling. Wenn wir unsere Stimmen dämpfen, wird das Rauschen des Flusses sie übertönen.«
Sängerling ließ sich auf den kalten Stein nieder.
Trauertaube schwebte im Hintergrund wie ein verwundetes Gespenst; ihr Blick war so unverwandt auf Sängerling gerichtet, als hinge ihr Leben von ihm ab.
Sängerling flüsterte: »Warum hast du mir nichts gesagt, Düne? Warum hat mir meine Mutter nichts gesagt?«
Düne setzte sich vorsichtig auf den anderen Stein, und sein zahnloser Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln. »Die Zeit war noch nicht reif«, sagte er freundlich. »Schwarzer Tafelberg und ich hatten beschlossen, daß ich dir nach Abschluß deiner Ausbildung zum Sänger alles sagen würde. Leider hatte ich bisher noch keine Gelegenheit dazu.«
»Oh Düne.« Sängerling warf die Arme hoch. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich fühle mich so … verloren.«
»Laß das. Du bist gerade gefunden worden. Von deiner richtigen Familie. Außerdem«, sagte er und sah mit zugekniffenen Augen auf die muskulösen Wachtposten in ihren schwarzweißen Umhängen, die den anderen Gefangenen die Fesseln zerschnitten, »wenn ich das hier überlebe, werde ich gern deine Ausbildung zu Ende bringen. Das heißt, wenn du mich dann noch als Lehrer haben willst.« Sängerling pflückte einen Grashalm aus einem Spalt im Fels, riß ihn erst in zwei und dann in vier gleich große Teile. »Düne, ich weiß nicht, was ich machen soll. Meine ganze Welt ist durcheinandergeraten. Ich weiß nichts von meiner richtigen Mutter. Mein wirklicher Vater war… ein Ungeheuer. Ich habe sogar mein Volk heute nacht verloren. Ich kann nie zurückkehren. Das weißt du, oder? Wenn jemand dahinterkäme, daß ich Eichelhähers Enkel bin…« Er konnte den Satz nicht beenden. Seine Kehle war ihm vor Kummer wie zugeschnürt. »Und mir fehlt meine Mutter, und Schwarzer Tafelberg auch, Düne. Ich will nach Hause.«
Düne seufzte und sah mit gerunzelter Stirn auf den Fluß. Auf der schwarzen Oberfläche tanzten Funken des gespiegelten Feuerscheins. »Es tut mir leid, Sängerling. Wenigstens bist du am Leben, und du -«
Heuler kam über den Sand auf sie zu. »Seid ihr fertig?« fragte er Sängerling.
Sängerling warf einen Blick auf Düne. »Glaube schon. Für den Augenblick jedenfalls.« »Dann komm, Alter«, sagte Heuler und deutete auf die Gruppe von Gefangenen, die von Wachen umringt am Feuer standen. »Los!«
Düne tätschelte Sängerlings Arm und sagte: »Später mehr.« Er glitt vom Felsen und ging zum Feuer. Heuler rief: »Mäuseschwanz! Trag das verletzte Mädchen. Bring sie mit ihrer Mutter ins südliche Gästezimmer. Flughund, du und deine Männer bringen die andern zur westlichen Zelle. Ich folge euch und bringe den Jungen zu den Zimmern von Eichelhäher.«
Mäuseschwanz kniete neben Maisfaser, und Distel sagte: »Sei bitte vorsichtig.«
Mäuseschwanz hob Maisfaser behutsam auf und trug sie den Pfad hinauf; Distel folgte ihm auf dem Fuße.
Die restlichen Posten, Bogen im Anschlag, umringten Düne, Nordlicht, Eisenholz und Nachtsonne und brachten sie geschlossen den Hügel hinauf. Eisenholz schaute sich dauernd um, als suchte er einen Fluchtweg.
Sängerling brachte es kaum fertig, seine Beine zum Gehen zu zwingen. Als es ihm schließlich gelang, wurden ihm die Knie weich. Er fing sich aber und schleppte sich über den Sand, Heuler zehn Schritt hinter sich.
Kurz vor dem Ende des Pfades wartete Trauertaube auf ihn. Ihre Augen leuchteten wie Sterne. Sie schaute kurz auf Heuler zurück, packte Sängerling am Arm und zischte: »Frag Nordlicht nach deiner Mutter. Er hat sie ermordet, ich habe es mitangesehen. Er hat sie in die Brust gestochen und dich aus ihrem Leih geschnitten. Trag ihn! Frag ihn nur!« Dann rannte sie über den Pfad, und ihr orangefarbenes Kleid wehte ihr um die Beine.
Wie betäubt, aber mit klopfendem Herzen sah ihr Sängerling nach. Dann setzte er sich mitten auf den Pfad und legte den Kopf in die Hände.
Heuler hielt neben ihm an. »Was gibt's?«
»Nichts. Ich möchte nur… nur einen Augenblick hier bleiben. Einverstanden?«
Heuler schaute ihn mißtrauisch an, mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß. »Gut. Aber nicht zu lang. Ich helfe Flughund mit den Gefangenen, dann komm ich zurück und bring dich zu
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