Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels

Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels

Titel: Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gear & Gear
Vom Netzwerk:
zu. Sonnenmuschel blickte auf: Mit einem Auge schaute sie der Vogel skeptisch an.
    Sie machte zwei weitere Paddelschläge und sog die salzige Morgenluft tief in ihre Lungen. Bald erreichte sie die breite Mündung des Fischflusses, und da tauchte auch schon Jaguars kleine bewaldete Insel im Dunst jenseits der Salzwasserbucht am fernen Horizont auf.
    Furcht griff mit eiskalten Fingern nach Sonnenmuschels Herzen. Sie schaute zu dem über ihr flatternden Vogel auf; es war eine Lachmöwe, so genannt, weil sie beim Jagen über dem Strand seltsam gackernde Laute von sich gab, so wie sie lachende Menschen machen. Man sagte, Jaguar könne sich in jedes beliebige Tier verwandeln, in Hund, Wurm oder Vogel. Man sagte auch, er könne einem Menschen solche Angst einjagen, dass dessen Seele den Körper verlässt. Aber der Mensch stirbt nicht immer daran. Oft wanderte die von Furcht erfüllte Seele übers Land, klagend und auf Zweige schlagend, bis aus ihr ein böser Waldgeist mit leeren, toten Augen wurde, während des Menschen seelenloser Körper weiter unter den Lebenden wandelte, unfähig zu sprechen oder ein normales Leben zu führen.
    Im Laufe ihrer vier und zehn Blätterblüten hatte Sonnenmuschel einen seelenlosen Körper gesehen, einen alten Mann namens Heitere Helle. Er hatte seine Seele einen Sommer zuvor verloren. Nach dem Vorfall hatte ihn seine Familie jeden Tag auf eine Grasmatte vor das Haus gesetzt. Dort hatte er mit offenem Mund ins Leere gestarrt, und Speichel war über sein Kinn geflossen. Bei der Erinnerung an diesen Mann zog sich jetzt noch Sonnenmuschels Magen vor Entsetzen zusammen.
    Die Möwe über ihr stieß einen lauten Schrei aus und flatterte davon. Sonnenmuschel paddelte, als würde sie von einer Horde feindlicher Krieger gejagt. Das Kanu schoss über die Bucht und hüpfte über das Wasser wie eine Schwalbe.
    Sie hatte schon vier Blätterblüten gesehen, als sie zum ersten Mal von Jaguar hörte. Die alte Wolfslauf, eine der Ältesten des Tellmuschel-Clans, war mit einem Säckchen Salz in der verkrümmten Hand durchs Dorf gerannt. Sie hatte das Salz um die Palisaden herum verstreut und geheimnisvoll geflüstert: »Jaguar ist zurückgekehrt. Er macht Maisschalenpuppen von uns«, hatte sie gesagt, »und dann verzaubert er sie.« In derselben Nacht war ein großer schwarzer Hund um die Palisaden herumgesprungen und hatte den Namen von Wolfslauf geheult. Man hatte sie am nächsten Morgen tot aufgefunden, die Finger in die Erde gekrallt, als hätte sie versucht, einen Gang aus ihrem Haus zu graben, um zu fliehen.
    Ein kalter Windstoß fuhr durch Sonnenmuschels Haar. Sie erschauerte und zog das Paddel ein. Das Kanu krängte zur Seite. Faserblatt hatte sie verflucht und dabei Jaguars Namen verwendet. Hatte er es gehört?
    »Jaguar!«, rief sie den flatternden Möwen zu. »Ich will mit dir sprechen. Ich bin nur ein Mädchen, ich kann dir nichts tun.«
    Die Möwen stürzten schreiend herab; ihre Flügel leuchteten hell in der Morgenröte.
    Sonnenmuschel steuerte das Kanu zu der Insel in der Ferne. Unsicher glitten ihre Blicke immer wieder zum Himmel. Im Osten hingen tiefe Wolken. So weit war sie noch nie gepaddelt, und die Muskeln an Armen, Brust und Schultern begannen zu schmerzen. Sie hatte nicht gewusst, wie riesig die Salzwasserbucht war, und auch noch nie erlebt, wie Furcht erregend die Dünung war, die ihr Kanu so hoch hob und so tief fallen ließ.
    Trotz der stechenden Schmerzen paddelte sie keuchend weiter. Auch die Blasen an ihren Händen, die das hölzerne Paddel führten, taten weh, aber sie würden später heilen. Sie näherte sich der niedrigen Insel; vom Wind geschüttelte Bäume säumten das Ufer. Schatten sprangen umher, geisterhaft und undeutlich wie Waldgeister, die nach dem besten Standort spähten, um ihre Ankunft zu beobachten.
    »Ich komme, Jaguar!«, rief Sonnenmuschel. »Ich habe Angst. Große Angst. Aber niemand hält mich auf. Auch du nicht.«

Sechs
    Das Wasser der Bucht leuchtete silbern in der Mittagssonne. Enten hatten sich darauf verteilt, und hier und da hinterließen springende Fische wachsende Ringe, die sich überschnitten und dann wieder verloren. Das ferne Westufer glich einem Buckel aus Flaum, über dem sich Wolken türmten.
    Am Ufer machte das Riedgras steinigen Schlammzonen Platz. Er kam immer bei Ebbe hierher, in verdreckten, nassen Mokassins. In einer Hand trug er einen Grabstock, in der andern einen Ledereimer. Im Laufe seines Lebens hatte er viele Namen gehabt, doch nun

Weitere Kostenlose Bücher