Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
meiste Zeit auf dem Kriegspfad, und meine Mutter, ja, ich bin sicher, dass sie sich um mich kümmerte, aber …«
»Aber nicht genug.« Sie nickte. Der Wind spielte mit einigen ihrer losen Haarsträhnen und wehte sie ihr über die Augen. »Kein Wunder, dass du Klanoberhaupt geworden bist, anstatt zu heiraten. Menschen anzuführen ist viel einfacher, als sie alle gleich zu behandeln, nicht wahr? Herabblicken viel angenehmer als jemandem gerade in die Augen zu sehen. Denn das zwingt einen, sich des anderen wirklich anzunehmen, und du weißt nicht, wie man das macht, habe ich Recht?«
Mit einer abwehrenden Geste erwiderte er: »Du bist selbst Anführerin. Du solltest es wissen.« »Genau deshalb habe ich ja auch gefragt.«
»Sag mir, Anführerin«, fuhr Blauer Rabe mit gepresster Stimme fort, »stellst du immer so… bohrende Fragen? Deine Worte gleichen Messerstichen.«
Irgendwo hinter sich hörte Blauer Rabe, dass Sperling lachte. Es war ein gedämpfter, beinahe erstickter Laut, so als habe er versucht, das Lachen zu unterdrücken. Aschenmond hob den Kopf und bedachte den alten Träumer, der sich ihrem Lagerplatz näherte, mit einem finsteren Blick. Sein mit kleinen roten Spiralen und grünen Bäumen bemalter Elchfellmantel war mit Schnee, der von den Bäumen herunterwehte, bestäubt.
»Worüber lachst du?«, verlangte Aschenmond zu wissen.
Silberner Sperling hockte sich vor den Kochtopf ans Feuer. »Über den Unterton in Blauer Rabes Stimme. Ich habe ihn so oft in meiner eigenen Stimme gehört, dass er für mich wie ein Echo klang. Wer ist hungrig?«
Blauer Rabe war sich nicht sicher, ob er ein Lächeln wagen durfte. Sperling nahm einen Löffel und rührte gelassen den Brei um, während Aschenmond ihn weiterhin anstarrte, als würde sie ihm am liebsten Hände und Füße fesseln lassen und eigenhändig Holz um ihn herum aufschichten. Seit sechs Tagen, seit er Lost Hill verlassen hatte, war Blauer Rabe fast ohne Nahrung ausgekommen. Seine Sorge um Zaunkönig hatte ihn so beschäftigt, dass ihm das Knurren in seinem Magen nicht wichtig gewesen war. Aber jetzt, angesichts des brodelnden Maisbreis, wurde er schier vom Hunger übermannt. »Ich habe selbst nichts zu essen mitgebracht, aber …«
»Wo sind meine Decken«, erkundigte sich Aschenmond mit scharfer Stimme, die leeren Hände von Blauer Rabe musternd. »Hast du nicht danach gesucht?«
Silberner Sperling rührte gelassen weiter. »Gesucht habe ich sie schon. Aber nicht gefunden.« »Nicht einmal eine?«
»Nicht einmal den kleinsten Fetzen einer Decke, Aschenmond. Nach dem Sturm gestern treiben sie wahrscheinlich schon längst im Green Spider Lake.« Sperling kostete den Maisbrei, nickte zufrieden und streckte Aschenmond auffordernd die freie Hand hin. »Würdest du mir die Schüsseln reichen, Aschenmond? Der Brei ist fertig.«
Aschenmond nahm die Schüsseln und knallte sie Sperling mit solcher Wucht in die offene Handfläche, dass sein Handrücken den Rammen zu nahe kam.
Der Träumer gab sich alle Mühe, keine Miene zu verziehen doch der Geruch nach verbrannten Haaren war deutlich zu riechen. »Danke, sehr freundlich von dir, Aschenmond«, sagte er und wandte sich an Blauer Rabe. »Hast du eine eigene Schüssel in deinem Bündel? Wir haben nämlich nur zwei dabei.« »Es tut mir Leid, ich besitze nicht mal ein Bündel«, erwiderte er. »Ich bin sehr überstürzt aufgebrochen. Kann ich diese Teeschale benutzen?«
»Aber sicher.«
Sperling füllte Maisbrei, der appetitlich nach gekochten Blaubeeren duftete, in die Schüsseln, und reichte sie herum. Anstelle eines Löffels benutzte Blauer Rabe die Finger zum Essen. Die fruchtige Süße der heißen Mahlzeit tat ihm mindestens so gut wie die liebevolle Berührung einer Frau. Je mehr er aß, desto ruhiger und zufriedener fühlte er sich.
Als er die letzten Reste aus der Schale gekratzt und sich die Finger abgeleckt hatte, drückte er die Schale in den Schnee, um sie zu säubern. »Ich habe vorhin zufällig mit angehört, dass ihr glaubt, der Junge sei auf dem Weg ins Buntfelsendorf. Es ist schon viele Winter her, seit ich das letzte Mal diese Strecke gegangen bin. Wie lange, meint ihr, werden wir bei dem Schnee bis dorthin brauchen?« »Wir?«, wiederholte Aschenmond erstaunt. »Wir werden keinen Schritt mit dir zusammen gehen!« »Ehrenwerte Anführerin, bitte bedenke doch, dass es für jeden von uns nur von Vorteil sein kann, wenn wir unser Vorhaben gemeinsam ausführen.«
»Nenn mir einen vernünftigen
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