Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
Grund, warum wir dich nicht hier an Ort und Stelle umbringen und deinen Leichnam verrotten lassen sollten?«
Blauer Rabe legte die Fingerspitzen aneinander und erwiderte nachdenklich: »Weil ich der einzige bin, verehrte Anführerin, der die Wanderer-Ältesten möglicherweise dazu überreden kann, Kleiner Zaunkönig das Leben zu schenken. Erst vorhin hast du Mitleid mit meiner Nichte geäußert. Du sagtest, dass jeder, der ein Kind zum Tode verurteilt, ein seelenloses Ungeheuer sein müsse. Wenn du mich tötest, tötest du damit gleichzeitig auch meine Nichte. Und du willst sie doch vor dem Tod bewahren, oder nicht?«
Blauer Rabe sah deutlich, wie Aschenmond unter ihrer Kapuze die Zähne aufeinander presste. »Doch. Doch, das will ich.«
Silberner Sperling legte seinen Löffel in der leeren Holzschale ab. »Wenn wir uns ranhalten und von einem neuen Schneesturm verschont bleiben, dann könnten wir übermorgen das Buntfelsendorf erreichen.«
Aschenmond warf Sperling einen skeptischen Blick zu. »Die Kinder sind schon einen Tag länger unterwegs als wir. Glaubst du wirklich, dass wir eine Chance haben, sie noch rechtzeitig einzuholen?« »Möglich wäre es, Aschenmond, aber …«
»Polterer war schon sehr schwach«, warf Blauer Rabe ein. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kinder schnell vorankommen. Als sie von Lost Hill aufbrachen, hat Zaunkönig das FalschgesichtKind auf einer Decke oder einem Fell hinter sich her gezerrt. Sie hat ihn die ganze Strecke bis zu dem Kanu, das sie anschließend stahlen, gezogen.«
Mitleid zeigte sich in Aschenmonds Blick.
Blauer Rabe reichte Sperling die saubere Schale zurück und stand auf.
»Wenn ihr gestattet - ich habe meinen Bogen und den Köcher hinter dem Felsen zurückgelassen und würde …«
»Augenblick«, sagte Sperling und hob die Hand. »Bevor irgendeiner von uns eine Waffe in die Hand nimmt, sollten wir uns über die Bedingungen unserer neuen Allianz einigen. Erstens: Falls Springender Dachs und seine Krieger unseren Weg kreuzen, erwarte ich von dir, Blauer Rabe, dass du deine Pfeile gegen sie richtest, und nicht gegen uns. Wenn ich nur den geringsten Zweifel daran haben sollte«, betonte Sperling und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Blauer Rabe, »werde ich dich töten.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf meine eigenen Verwandten schießen kann, Silberner Sperling«, antwortete Blauer Rabe. »Selbst wenn sie mich angreifen sollten. Aber ich gebe dir hiermit mein Ehrenwort, dass ich meinen Bogen weder gegen dich noch gegen deine… gegen Anführerin Aschenmond erheben werde.«
»Oder gegen Polterer, falls wir ihn finden«, fügte Aschenmond hinzu. Das Sonnenlicht spiegelte sich in ihren misstrauischen Augen.
»Oder gegen Polterer«, nickte Blauer Rabe. »Mein einziges Sinnen und Trachten beschränkt sich im Augenblick nur darauf, meine Nichte zu finden, bevor sie ein anderer unseres Klans erwischt. Ich weiß noch nicht, was wir anschließend unternehmen können, aber gemeinsam werden Zaunkönig und ich schon zu einem Entschluss gelangen.«
Sperling nickte. »Gut, dann geh jetzt deinen Bogen holen.« Blauer Rabe verschwand hinter dem Felsen, und Sperling nahm seinen eigenen Bogen an sich.
Die Sonnenstrahlen brachen sich glitzernd über dem schneebedeckten Wald. Der laute, melodische Ruf eines Kardinals schallte durch die Bäume. Tschirr, tschirr, tschirr pfiff er, gefolgt von einem raschen wiiit, wiüt, wiüt.
Das Netz in der Hand und die Schnur ums Handgelenk gewickelt, stapfte Zaunkönig den verschneiten Pfad entlang. Der Sturm der vergangenen Nacht hatte trockene Äste und Zweige von den Bäumen gerissen, die jetzt kreuz und quer im Schnee steckten und ihnen den Weg versperrten. Polterer trottete hinter Zaunkönig einher und versuchte mit ihr Schritt zu halten, während er den Hindernissen auswich. »Hier ist es!«, rief Zaunkönig und zeigte auf eine kleine Lichtung vor ihnen. Scharen von Zeisigen trippelten über den Schnee und pickten die Samen des dicken Wintergrases auf, die der Sturm verweht hatte. »Das ist der perfekte Platz.«
Sie hatte Polterer am Abend zuvor über diese Lichtung die Anhöhe hinauf gezogen und bereits da die Vögel bemerkt. Die südliche Seite der Lichtung, auf die sie jetzt zusteuerten, wurde von wilden Rosenbüschen gesäumt.
Der weiße Fuchsumhang schleifte im Schnee, als Polterer auf seinen kurzen Beinen hinter ihr her stolperte. Sein Anblick versetzte Zaunkönig einen Stich ins Herz. Er sah so
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