Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
zu mir kommen, Zaunkönig. Es ist nicht weit. Komm, bitte. Hilf mir.«
Zaunkönig erstarrte und riss erschrocken die Augen auf, als sie ihn sah - er tanzte - eine gespenstische Erscheinung aus Blut und Mondlicht schwirrte zwischen den schwarzen Baumstämmen umher. Er warf die Arme in die Höhe und drehte sich um die eigene Achse wie ein Wirbelwind im Sommer. Blut spritzte aus seinen Wunden und sprenkelte den Schnee und die Bäume.
Zaunkönig stand da wie versteinert. Ihr war, als starrte sie in die Augen eines Schneepumas, der gerade zum Sprung auf sie ansetzte…
»Ich werde dir nicht folgen!«, widersprach sie. »Ich kenne dich doch gar nicht!«
Hinter einem eisgrauen Baumstamm sah sie ein bleiches, blutverschmiertes Geistergesicht hervorlugen. Es grinste sie an. »Weißt du, warum Geister Häuser bauen?«
»Was?« Zaunkönig schüttelte verwirrt den Kopf.
»Sie bauen Häuser, weil sie nicht genügend Gewitterpfeile besitzen. Sie haben Angst vor uns.« »Angst? Aber warum? Sie sind doch Geister! Und Geistern können wir nichts anhaben.« Er streckte seine Hand aus. Sie schimmerte matt und sah aus, als sei sie aus Mondlicht gemacht. »Du musst dir die Geisterhäuser unbedingt ansehen, Zaunkönig. Unsere Welt wird untergehen. Wir müssen die Menschen warnen, ehe es zu spät ist. Bitte, komm mit. Ich kann das nicht alleine tun.« Das einzige, was Zaunkönig wahrnahm, war das kräftige, rhythmische Hämmern ihres Herzschlags. »Ich gehe nirgendwohin!« Sie machte einen Schritt zurück. »Außer nach Hause!« Die Gestalt ließ die Hand sinken. »Es tut mir Leid, Zaunkönig. Wirklich. Aber ich kann die Dinge jetzt nicht mehr aufhalten. Du wirst mit mir kommen. Die Macht hat es beschlossen.«
Die Angst legte ihre eiskalten Finger um Zaunkönigs Kehle.
Der Junge trat einen Schritt auf sie zu, breitete die Arme aus -und die Wunden auf seiner Brust brachen auf. Das Blut rann ihm in Strömen über den Bauch und die Beine herab. »DU machst es dir leichter, wenn du freiwillig mitkommst. Bitte.«
Zaunkönig rannte los, so schnell ihre Beine sie trugen. »Onkel Blau-er Ra-a-be!«, schrie sie aus Leibeskräften.
Blauer Rabe trat mit gebeugtem Rücken durch die Tür ins Langhaus seiner Mutter und spähte hinüber zur großen Feuerstelle, um die Frost-auf-den-Weiden, Siebenstern, Sumpfbohne und Perlenfarn auf dicken Fellstapeln herumsaßen. Perlenfarn trug einen Umhang aus Antilopenfell. Die anderen Anführerinnen hatten sich Decken um die Schultern gelegt; Siebenstern eine rote, die von Sumpfbohne war blau-schwarz gestreift, und die seiner Mutter von einem hellen Beige. Vor ihnen lief Springender Dachs aufgeregt hin und her.
Blauer Rabe betrachtete seinen Vetter eine Weile. Er war etwa halb so alt wie er selbst, hatte breite Schultern und schmale Hüften. Unter dem aufwändig gefärbten Lederhemd wölbten sich seine kräftigen Oberarmmuskeln. Das dichte schwarze Haar fiel ihm offen über die Schultern und glänzte im Feuerschein. Die hohen Backenknochen und dunklen Augen verliehen seinem Gesicht einen markanten Ausdruck. Er war früher einmal verheiratet gewesen. Vor neun Wintern. Die einzige Erinnerung daran war eine wulstige, weiß schimmernde Narbe, die sich quer über seine Kehle zog. Das Messer seines Eheweibs hatte die Halsschlagader nur knapp verfehlt. Sie floh im Chaos des Blutbades und des allgemeinen Geschreis. Niemand hatte je wieder etwas von ihr gehört. Nach Meinung von Blauer Rabe war das arme Eheweib, sie hieß Hügelgrotte, das wahre Opfer dieser Tragödie. Sie hatte alles verloren. Sogar ihre Familie.
Blauer Rabe trat vor die Versammelten hin. »Seid gegrüßt, Anführerinnen, Vetter.« Frost-auf-den-Weiden drehte sich zu ihm um. »Hast du schon das Neueste von deiner Nichte gehört?« Blauer Rabe legte ahnungsvoll die Stirn in Falten. »Nein. Wo ist sie? Ich dachte, sie sei hier bei euch.« »Sumpfbohne hat sie wieder bei Handgreiflichkeiten erwischt.«
»Oh nein, nicht schon wieder!«, seufzte Blauer Rabe resigniert. Ließ sich dieses Mädchen denn überhaupt nicht belehren? »Welche Strafe habt ihr ihr aufgebrummt?«
»Sumpfbohne hat ihr befohlen, alle Wassersäcke hier im Haus mitzunehmen, sie im Pipe Stern Lake aufzufüllen und nach Hause zu tragen. Das dürfte sie eine Weile beschäftigen. Sie war im letzten Viertelmond ohnehin ziemlich faul. Ich schätze, dass es acht bis zehn Säcke sind.« »Na schön, lass uns das später besprechen«, beendete Blauer Rabe das Thema und trat ans Feuer.
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