Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
beschleunigte ihre Schritte und eilte durch das nördliche Palisadentor und hinein in den Wald, der sich dahinter erstreckte.
Die Schatten hatten beinahe das ganze Unterholz verschluckt. Die Hickory-Bäume reckten sich wie bleiche Skeletthände in den düsteren Abendhimmel.
Zaunkönig trottete die erste Anhöhe hinauf und wieder herunter, dann blieb sie stehen und dachte nach. Wie es aussah, würde sie es nicht vor Einbruch der Nacht nach Hause schaffen. Wozu sich also beeilen? Wenn sie schließlich mit den Wassersäcken zurückkehrte, würde ihre Großmutter sie ohnehin nur verspotten und den restlichen Abend den Leuten ihres Langhauses vorjammern, was für eine Plage Zaunkönig sei. Schlimmer noch, Onkel Blauer Rabe würde mit gesenktem Kopf am Feuer sitzen, die Lippen vor Gram zusammengekniffen. Zaunkönig kannte diesen Gesichtsausdruck bei ihm und bekam dann immer ein schrecklich schlechtes Gewissen.
Sie stieß einen Fichtenzapfen vor sich her und beobachtete, wie er den Pfad entlangkullerte. Die Luft im Wald roch modrig und nach feuchter Erde. Windmutter fegte durch die höchsten Wipfel der Fichten. Schneewehen glitzerten matt im verlöschenden Licht.
Der Pfad führte um einen umgestürzten Ahornbaum herum. Zaunkönig blieb stehen und schaute sich die riesigen Wurzeln an und das große Loch, das sie im Erdboden hinterlassen hatten. Tief unten in der Erdgrube schimmerten Granitsteine.
Der Weg führte weiter abwärts und nach einer Biegung kam das Seeufer in Sicht. Großmutter Mond schob gerade ihr Gesicht über den Horizont und überzog die Wellen mit einem silbernen Glanz. Zaunkönig ließ die Säcke in den Sand fallen und nahm die wunderbare Stimmung in sich auf. Zu ihrer Rechten erhob sich Lost Hill, an die hundert Hand hoch, die Kuppe mit Eichen und Fichten bewachsen. Sie wendete ihren Blick nicht in diese Richtung, aus Angst, das Wimmern der verlorenen Kinder zu hören, die auf diesem Hügel gestorben waren. Stattdessen starrte sie sehnsüchtig auf das Antlitz von Großmutter Mond. Von allen Legenden, die ihr Volk erzählte, faszinierte Zaunkönig die Geschichte von Großmutter Mond am allermeisten. Bevor die Erde geformt wurde, lebte Großmutter Mond in dem Himmel-über-der-Welt. Eines Tages, als sie auf der Suche nach Heilkräutern war, um ihrem kranken Ehemann Linderung zu verschaffen, riss sie einen Baum mit den Wurzeln aus und öffnete dadurch ein Loch im Himmel. Als sie sich über die Kante beugte, um einen besseren Blick zu haben, gab plötzlich der Boden unter ihr nach und sie wurde in das Loch hineingezogen. Biber sah sie fallen und tauchte hinab in die weiten Wasser, die die Erde bedeckten, fand Sand und häufte ihn auf, damit sie weich aufkäme. Doch als sie auf der Erde landete, wurde sie von allem Bösen begleitet. Sie gebar Zwillinge, zwei Buben, einen guten und einen sehr bösen. Der böse, Roter Feuerstein, kämpfte sich aus ihrem Leib heraus und tötete sie. Von Trauer erfüllt zeichnete der gute Sohn, Himmelshalter, ihr Gesicht in den Himmel, wo es zum Mond wurde, und aus ihren Brüsten formte er die Berge. Der Rest ihres Körpers verschmolz mit dem Wasser und wurde zu Großmutter Erde. Daraus erwuchsen die drei Heiligen Schwestern, Mais, Bohne und Kürbis. Zaunkönigs liebster Teil der Geschichte handelte von Großmutter Monds Seele. Wie alle Lebewesen besaß auch sie zwei Seelen, eine, die für immer mit ihrem Körper verbunden blieb sie lebte in Großmutter Erde - und eine, die sich den Nachtwanderern am Himmel anschließen sollte. Diese Seele nannte man Fallende Frau. Fallende Frau war von einer ungeheuren Wut über ihre Ermordung besessen und schwor, erst dann wieder in die Welt-über-dem-Himmel zurückzukehren, wenn sie Roter Feuerstein gefunden und getötet hatte. Aber Roter Feuerstein war sehr gerissen. Er lernte rasch sich zu verstecken, indem er sich in andere rote Gegenständen verwandelte, Rosenblüten, Vogelaugen, Steine und Blut. Das wurde manchen Menschen zum Verhängnis. Wann immer Roter Feuerstein sich in Blut verwandelte, um sich in den Adern eines Menschen zu verstecken, versuchte Fallende Frau ihn dort herauszutreiben, indem sie alle möglichen Krankheiten in den Körper dieser Person schickte. Manchmal starben diese Menschen sogar. Aber Menschen konnten auch auf andere Arten ums Leben kommen: Böse Geister zum Beispiel suchten die Seelen von Menschen heim; Hexen töteten mit Giften und verzauberten Pfeile; mächtige Schamanen, wie das Falschgesicht-Kind oder
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