Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
aber zumindest wirst du es jetzt warm haben.«
Polterer hielt mit einer Hand den Umhang vorne zu und musterte Blauer Rabe eine ganze Weile schweigend, ehe er dann mit leiser Stimme erklärte: »Ich schenke dir dein Leben.« Blauer Rabe senkte in amüsierter Dankbarkeit den Kopf, fühlte sich aber plötzlich merkwürdig verwundbar. »Ich weiß das zu würdigen, Polterer. Bist du bereit?«
Der Junge wandte sich zu Weißer Reiher um. Er zog den nassen Finger aus dem Mund und deutete damit auf die alte Frau. »Sie hat Geräusche gemacht. Wie das Knistern des Nachthimmels, wenn die Sterne herabfallen.«
Blauer Rabe sah ihn verdutzt an. »Ihre Stimme knisterte, meinst du? Na ja, sie hat beinahe schon siebzig Winter erlebt…«
»Nein, nicht ihre Stimme. Das Geräusch kam aus ihren Augen.«
»Aus ihren Augen?«
»Ja. Und es war laut.«
Blauer Rabe legte den Kopf schief, nicht sicher, ob er lachen oder sich fürchten sollte. »Hörst du öfter Geräusche aus den Augen der Leute?«
Polterer hatte den Finger wieder in den Mund geschoben. »Nur wenn die Nachtwanderer kommen.« Blauer Rabe überlief eine Gänsehaut. Die Nachtwanderer waren die Geister der verstorbenen Ahnen, die in Hütten wohnten, die aus weißen Federn gebauten waren und nachts am Himmel leuchteten. Sie stiegen nur zur Erde herab, um eine wichtige Botschaft zu überbringen oder die Sterbenden hinauf in die Welt-über-dem-Himmel zu geleiten.
»Polterer«, begann Blauer Rabe mit einem unbehaglichen Lächeln, »ich muss zu meinem Langhaus zurückkehren, um eine Ratsversammlung einzuberufen. Möchtest du mich begleiten?«
»Ich will nach Hause.«
»Das hier ist dein neues Zuhause, Polterer. Du brauchst nicht mitzukommen. Wenn du möchtest, bringe ich dich in Siebensterns Haus, oder …«
»Meine Mutter wird bald hier sein.« Polterer reckte den Hals und blickte Blauer Rabe fest in die Augen. »Das wird sie. Sie hat es mir versprochen. Und ihr werdet alle sterben.«
»Polterer, ich …«
»Sie wird mich holen. Lahmer Hirsch, mein Onkel, wird sie begleiten und ihr dabei helfen. Das haben sie mir schon vor langer Zeit versprochen. Sie sagten, sie würden es niemals zulassen, dass mir jemand weh tut.« Er nickte selbstsicher. »Ja, sie wird kommen.«
Blauer Rabe strich Polterer zärtlich über das schwarze Haar. Er brachte nicht den Mut auf, dem Jungen ins Gesicht zu sagen, dass seine Mutter und der Kriegsführer des Buntfelsendorfes höchstwahrscheinlich tot waren.
»Na schön, solange du auf sie wartest«, meinte er leichthin, »werde ich mich um dich kümmern. Du hast einen langen Weg hinter dir und bist sicherlich furchtbar hungrig und erschöpft. Erst einmal lasse ich dir etwas zu essen bringen, und dann kannst du dich in meine Büffelfelldecken wickeln und dich am Feuer richtig ausschlafen.«
Blauer Rabe nahm Polterer an der Hand und verließ mit ihm das Langhaus. Die Sonne schien, als sie den Pfad hinauf, auf die Menschengruppe zugingen, die sich auf der Kuppe des Hügels versammelt hatte. Blauer Rabe betrachtete den Jungen aus dem Augenwinkel heraus und sah ihn zum ersten Mal deutlich im Tageslicht. Sein Körperbau entsprach zwar dem normal gewachsener Kinder seines Alters, doch die kurzen Arme und Beine ließen ihn dennoch gedrungen erscheinen. Und sein Gang erinnerte an den einer Ente.
Großvater Tagbringers Licht fiel durch die Bäume und malte golden schimmernde Dreiecke auf ihren Weg, doch Polterer spähte nur verzweifelt durch den Wald.
»Polterer, du sollst wissen, dass dich mein Volk, alle Bewohner des Wanderer-Dorfes, für sehr wertvoll erachten. Wir werden dich sehr gut behandeln und du wirst glücklich bei uns sein. Darauf gebe ich dir mein Wort. Ich …«
Auf der Hügelkuppe entstand plötzlich Unruhe. Blauer Rabe schloss seine Finger fester um die Hand des Jungen. Schreie wurden laut, und einige Frauen rannten mit bleichen Gesichtern davon. Der Rest drehte sich wie ein riesiges, vielköpfiges Wesen um und starrte Blauer Rabe und Polterer entsetzt an. »Was ist da passiert?«, flüsterte Blauer Rabe ängstlich und beschleunigte seinen Schritt. Polterer watschelte mit seinen kurzen Beinen hastig neben ihm her. »Ich habe es ihnen gesagt.« Blauer Rabe sah ihn verwirrt an. »Wem hast du was gesagt?« »Ihnen. Diesen Männern.« Eichel löste sich aus der Gruppe und rannte den Hügel hinab auf sie zu. Er war von stämmiger Gestalt und trug die typische Haartracht der Krieger des Dornbusch-Klans - beide Seiten des Schädels
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