VT01 - Eine Wunde in der Erde
unmittelbarer Nähe befindet.«
»Das ist mein Wapti !«, rief Kinga entrüstet aus. »Mein Stadtmesser mit dem Zeichen des Raaven. Ich habe es seit meiner Mannswerdung nicht mehr abgelegt.« Er schob die Hand des Alten grob beiseite.
»Du tust mir weh, mein Junge.« Chérie verdrehte lustvoll die Augen und wich, nachdem ihn Kinga freigelassen hatte, einen Schritt zurück. »Während dieser Nacht wirst du deinen Stolz zähmen müssen.« Der Lakai lächelte. »Du wirst ihn der Aufgabe opfern müssen, für die du von deinen Freunden und Kollegen auserkoren wurdest.«
»Du… weißt davon?«
»Habe ich Augen, um zu sehen? Habe ich Ohren, um zu hören?« Chérie seufzte. »Eine Frau, die nach ein wenig Lust und Liebe hungert, mag über manche Dinge hinwegsehen oder sie ignorieren. Ich aber wurde geschult, meine Herrin zu bewachen und dafür zu sorgen, dass ihr nichts Schlimmes zustößt.« Der Anschein von Harmlosigkeit fiel plötzlich von dem Alten ab; so, als fiele ihm ein grauer Mantel von der Schulter und legte ein kunterbuntes Unterkleid frei. »Ich warne dich, Kinga: Gib der Mademoiselle, was sie so dringend verlangt. Und mache deine Arbeit gut. Solltest du scheitern und Lourdes mit dir nicht zufrieden sein, dann erwarten dich nicht nur ihre Peitschenhiebe. Denn ich bin ein Mensch, dessen Geduld und dessen Hass niemals ein Ende finden.« Chérie trat wieder näher und fuhr mit der Körperkontrolle fort. Er zeigte ein freundliches Lächeln, als könnte er kein Wässerchen trüben. »Holla! Trägst du etwa ein zweites Messer um die Leibesmitte? Es scheint nicht ganz so lange zu sein, aber dennoch sehr kräftig…«
***
Kinga trat durch den Gazevorhang. Unsicher und unbeholfen. Ein Bauerntölpel, der nicht wusste, wie er sich in Gegenwart einer Hochwohlgeborenen bewegen sollte.
»Komm näher, mein Schöner!«, befahl Lourdes, »und setz dich zu mir. Wir haben einiges zu besprechen.«
Der junge Krieger stolperte über eines der vorbereiteten Polster, wäre beinahe auf sie gestürzt. »Nicht so stürmisch!«, rief sie und schob sich ein wenig zur Seite, sodass er neben ihr Platz fand. »Macht dich meine Gegenwart etwa nervös? Darf ich dir etwas zum Trinken anbieten?«
»Ja«, sagte Kinga, und schien damit beide Fragen zugleich beantworten zu wollen. Er griff nach dem gefüllten Zinnbecher, stürzte den schweren Wein in einem Zug hinab, ließ sich von einem Sklaven nochmals einschenken.
Lourdes betrachtete den Krieger eingehend.
Er mochte vier oder fünf Jahre jünger als sie selbst sein. Sein Oberkörper war von unzähligen Narben und Kratzern übersät. An einer Hand fehlten mehrere Fingerglieder, der Kopf wirkte… eingebeult und asymmetrisch. Das Stadtzeichen, der stilisierte Raaven, war ihm in mehreren abstrakten Strichen über der Nasenwurzel eintätowiert. Das Bild übte eine seltsame, hypnotisierende Wirkung auf sie aus …
»Warum wolltet Ihr mich zu so später Stunde sprechen, Mademoiselle?«
Sie schrak aus ihren Gedanken. »Ich habe dich gesehen, Kinga, und gewusst, dass mehr in dir steckt als in all den anderen Städtern hier. Du hast etwas Edles an dir. Etwas, das dich interessant macht. Es ist nicht nur diese körperliche Pracht«, – sie streichelte ihm mit den Fingern sanft über die freigelegten Oberschenkel –, »sondern auch das, was sich zwischen deinen Ohren befindet.«
»Dir gefällt mein Kopf?« Er tastete ihn mit beiden Händen ab, als suchte er nach etwas Besonderem.
Lourdes lachte. »Ich rede von den Werten, die in dir stecken, Dummerchen! In der Himmelsstadt Avignon-à-l’Hauteur mögen wir Bürger, die geradeheraus sagen, was sie wollen. Die gesunden Menschenverstand besitzen, die Ehre im Leib haben und sie weitaus mehr schätzen als Gier und Falschheit.«
»Das alles gefällt dir an mir?« Kinga blickte sie erstaunt an, als könnte er nicht glauben, was sie da von sich gab.
Ja, sie hatte ihn an der Leine. Es steckten ausreichend Naivität und Eitelkeit in ihm, um ihn für sie einzunehmen.
»Ja, das schätze ich an einem Mann.« Ihre Hand wanderte höher. Das kleine neckische Fellröckchen empor, zwischen seine Beine. »Und weißt du, warum?«
»Keine Ahnung.« Er ließ ihre Hand gewähren, wehrte sich nicht gegen die Zudringlichkeiten. Als wüsste er nicht, was mit ihm geschah.
»Wir Himmelsstädter lieben junge, gesunde und ehrliche Burschen – damit wir sie verderben können.«
Sie stürzte sich auf ihn, begrub sein Gesicht zwischen ihren Brüsten und genoss mit
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