VT01 - Eine Wunde in der Erde
seiner Heimat verursacht hatte. Er musste es tun, solange er die Kraft verspürte, seine Neugierde aufrecht zu erhalten.
Er hörte Schaben und Scharren hinter sich und drehte sich um.
Die Anderen folgten ihm. Wie Tiere einer Herde liefen sie ihm hinterher.
Was, zerbrach er sich den Kopf, während er die Treppen aufwärts stieg, war eine Herde?
***
»Ich habe dich selten zuvor in einer derart guten Laune gesehen, Herr Lomboko.«
»Ich habe allen Grund dazu, Mademoiselle.« Der Raffzahn deutete eine Verbeugung an und kam näher, bis ihn ein letzter Gazevorhang von der Prinzessin trennte. »Dank einer kleinen verleumderischen Seele habe ich alle Beweise, um die Kilmalier des groß angelegten Steuerbetrugs zu überführen.«
Lourdes schob eine Haarlocke beiseite, betrachtete sich kritisch im Spiegel und schob die mit Zuckerwasser steif gehaltene Locke schließlich wieder in die ursprüngliche Position zurück. »Du langweilst mich, Lomboko«, sagte sie beiläufig. »Die Menschen betrügen immer und überall. Treib die Steuernachzahlung und eine angemessene Strafe ein, teil ein paar Peitschenhiebe aus und lass den Hauptschuldigen über einem der großen Dampftöpfe verbrühen. Das sollte ausreichen, um meinen teuren Bürgern die Köpfe zurechtzurücken.«
»Ihr seid Euch des Ausmaßes des Betrugs nicht bewusst«, fuhr Lomboko fort. »Wenn sich all die Dinge als richtig erweisen, die mir mein Zuträger erzählt hat, handelt es sich um die größten Akt einer Steuerhinterziehung, dem ich jemals begegnet bin. Ich schlage vor, die ersten hochnotpeinlichen Befragungen an jenen Steuerbütteln zu beginnen, die Kilmalie während der letzten zwanzig Jahre besucht und kontrolliert haben. Es müssen Unsummen an Jeandors geflossen sein, um diese Kretins ruhig zu halten. Lasst ihnen zum Auftakt die Fingernägel entfernen und sie anschließend auf kleiner Flamme rösten. Wenn Ihr wollt, stehe ich den Folterknechten gerne mit Rat und Tat zur Seite…«
»Ich weiß um deine besonderen Vorlieben Bescheid, mein guter Raffzahn«, sagte Lourdes. »Aber hast du auch Beweise für deine Vorwürfe, oder handelt es sich nur um Hörensagen?« Mit einem Kohlestift zog sie die Lidschatten nach. Anschließend trug sie einen Hauch von Wangenrouge auf. Kinga sollte sie von ihrer vorteilhaftesten Seite kennen lernen.
»Ich leide nicht an Leichtgläubigkeit, Mademoiselle. Mein Informant erscheint mir als absolut vertrauenswürdig. Ich habe seine Aussagen mit den Einträgen in den Steuerbüchern verglichen und in ausnahmslos allen Fällen Übereinstimmung gefunden. Die Kilmalier haben seit mehreren Dezennien zu niedrige Erträge bekannt gegeben, mehr als ein Drittel ihrer Landfläche verheimlicht, Stipendien und Schulungsgelder erschwindelt, einen Gutteil der Ernte unter der Hand verkauft… Es handelt sich um ein zugegebenermaßen geschickt angelegtes Betrugsgeflecht, das durch allerlei familiäre Verschachtelungen, Belehnungen, Schenkungen und Verkäufe verschleiert wird. Ach – es geht mir das Herz auf, wenn ich an den Strafenkatalog denke, der für solche Fälle zur Anwendung kommt …«
»Nennt mir die Summe, um die es eigentlich geht, bevor ich mich zu langweilen beginne.« Lourdes tupfte sich die Essenz wilder Beerenblätter mit einem heißen Stempelstein in die Achselhöhlen und schließlich zwischen die Beine.
»Ich würde meinen, dass es sich inflationsberichtigt um… hm … einen Betrag jenseits der fünf Millionen Jeandor handelt.«
» Wie bitte?« Lourdes drehte sich zum Steuerbüttel um, achtete nicht auf die weit gespreizten Beine und den Duftstein, den sie sich soeben zwischen die Schenkel presste. » Fünf Millionen? Das ist fast so viel, wie meiner Schwester und mir etatmäßig in einem Jahr zur Verfügung steht!«
»Und es ist das Tausendfache dessen, was ich, Euer treuester Diener, im selben Zeitraum verdiene. Wenn ihr wisst, was ich damit sagen will.«
Sie zog den glosenden Steinstempel hervor, warf ihn achtlos beiseite. »Du sollst eine Gehaltserhöhung bekommen, Raffzahn, wenn sich deine Anschuldigungen bewahrheiten.«
»Das freut mich, Mademoiselle.« Lomboko verbeugte sich, so tief, dass die Feder seines Spitzhutes den staubigen Hüttenboden berührte. »Ihr ordnet also an, dass ich noch heute mit dem Ausräuchern dieses Ratzennests beginne?«
»Lass mich überlegen.« Lourdes blickte an sich herab. Betrachtete all die teuren Kosmetika, die vor ihr aufgereiht waren und die sie bereits zum Einsatz gebracht hatte.
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