VT01 - Eine Wunde in der Erde
Glöcklein und ließ es bimmeln.
Chérie kam herbeigeeilt. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Kinga über den mit einer Zipfelmütze und mit an der Spitze aufgerollten Schuhen bekleideten Diener gelacht. Jetzt hatte er für derlei Dinge keinen Blick.
»Wir reisen ab!«, befahl die Prinzessin und gähnte ausgiebig. »Lass meine Sachen zusammenpacken und die Witveer aufwärmen. Die Wachen vor meiner Haustüre sollen verstärkt werden. Mag sein, dass uns der Pöbel belästigt.«
Chérie nickte ergeben und schlurfte davon.
»Du kannst doch nicht…«
»Setz dich zu mir, mein verwirrter kleiner Liebling«, schnurrte Lourdes und zog ihn näher an sich. Mit ihren lang geschliffenen Fingerkrallen kratzte sie zärtlich über seine Beine. »Du musst verstehen, dass sich eine Frau in meiner Position einer derartigen Gefahr nicht stellen darf. Ich habe Verpflichtungen, deren Bedeutung weit über das Schicksal Kilmalies hinausgeht. Es ist unabdinglich, dass ich die Sicherheit suche.« Sie ließ sich mit ihrem Kopf auf seinen Schoß fallen, griff mit beiden Händen nach seinem Schopf und wühlte sich in seine Haare. »Auf meinem Witveer wäre allerdings noch ein Platz frei…«
»Mein Platz ist hier !«, erwiderte Kinga. Er fühlte sich müde, wie betäubt…
»Die Himmelsstadt kann dir mehr bieten, als du in diesem Kaff jemals erreichen wirst. Einem Mann mit deinen Qualitäten stehen dort Tür und Tor offen. Ich bin gerne bereit, dich an meine Freundinnen oder meine Schwester zu verleihen…«
»Lass den Unsinn!« Kinga drückte ihre Hände beiseite, sprang auf, zog die Prinzessin mit sich und öffnete das Fenster. Er packte sie grob und zwang sie, zuzuhören.
Lourdes blieb überraschend ruhig. Mehr Erstaunen als Angst zeigte sich in ihrem Gesicht.
Die Besprechung des Stadtrates auf dem Hauptplatz hatte begonnen. Fakalusas Worte waren deutlich zu verstehen.
»Ihr alle könnt den Feuerschein sehen!«, rief die Dorfoberste soeben über die gut und gern zweihundert Köpfe hinweg. »Der Kilmaaro spuckt glühendes Gestein, wie es in den alten Geschichten erwähnt wurde. Das flüssige Feuer kommt auf Kilmalie zu; stetig fließt Nachschub aus dem Schlund. Wir müssen davon ausgehen, dass die Hitzespur bis hierher gedrückt wird.«
Die Menschen schwiegen kummervoll. Lediglich da und dort hörte man einen unterdrückten Seufzer.
»Uns bleibt noch eine geschätzte Stunde, um etwas gegen das Flammenmeer zu unternehmen«, sagte Omoko, der Leiter der Defaanse, der auf das Podest neben die Dorfälteste gesprungen war. »Irgendwelche Vorschläge?«
»Bauen wir einen Erdwall, an dem das Feuer gestoppt wird und zu den Seiten der Stadt hin abrinnt!«, rief eine Frau.
»Unmöglich«, erwiderte Omoko, »dafür fehlt uns die Zeit. Außerdem würde sich das Feuer wohl durch den Damm fressen.«
Ein Hauch von Wind kam auf. Er blies seltsamen, nie zuvor gerochenen Gestank vor sich her.
Es war der Geruch von Verwüstung und Untergang.
»Spürst du die Angst?«, fragte Kinga leise. »Noch bevor die Nacht um ist, ist alles verloren, um das wir Jahrhunderte lang gekämpft und geschuftet haben.«
»Und betrogen, wenn ich den Worten des Raffzahns glaube«, sagte die Prinzessin mit plötzlicher Wut. Sie wehrte sich gegen seinen Griff, zeigte keinerlei Schmerz. »All das, worauf ihr so stolz seid, ist auf Diebstahl aufgebaut. Millionen von Jeandors habt ihr während der letzten Jahre abgezweigt, wie mir Lomboko erzählte, um eure armselige kleine Idylle aufrecht zu erhalten. Ich finde es nur gerecht, dass euch das alles wieder genommen wird.«
»Gerecht?« Kinga verstärkte seinen Griff. »Ausgerechnet du redest von Gerechtigkeit? Du und deine Schwester lebt in anderen Sphären. In den Wolken, fern von den Sorgen, die ein Normalsterblicher haben muss. Ja, dein Steuerbüttel hat Recht. Wir haben gelogen und betrogen und uns mehr geholt, als uns eigentlich zusteht. Aber ist dir nie in den Sinn gekommen, dass das Recht eines de Rozier ein Unrecht für diese ganze Stadt sein könnte? Dass wir sonst niemals eine Chance gehabt hätten, Kilmalie zu dem zu machen, was es heute ist? Dass wir, weil es uns gut geht, neues Land urbar machen und damit weitaus mehr Steuerleistungen erbringen? Dass andere Menschen hierher zuziehen, weil sie hoffen, es ebenfalls zu bescheidenem Wohlstand zu bringen? Dass die Gegend sicher vor Marodeuren ist? Dass mehr Kinder als sonst wo geboren werden? Dass die Leute in Frieden alt werden können, weil die Stadt für sie
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