Vulkanpark
der
Wand. Georgina als süßes dunkelhäutiges Baby mit riesigen Kulleraugen und
schwarzen Kringellöckchen auf dem Arm von David, als Schulkind mit Hunderten
dünn geflochtener Zöpfchen und bunten Perlen darin, einmal hielt sie Franca an
der Hand und ein anderes Mal David.
Das war
noch gar nicht so lang her. Wie sich alles verändert hat, dachte Franca mit
einem leichten Ziehen in der Brust. Ihre kleine heile Familie gab es nicht
mehr, und Georgina war fast erwachsen.
Natürlich
war sie stolz auf ihre große Tochter. Aber da war auch ein kleines bisschen Wehmut
in dem Wissen, wie schnell die Zeit verging. Und wie sichtbar das auf diesen
Bildern dokumentiert war.
Im
Wohnzimmer setzte sie sich auf das Sofa. »Na, komm mal her«, rief sie Farinelli
zu. »Machen wir beide es uns gemütlich.«
Doch
der Kater, der auf seinem gewohnten Platz im Sessel lag, öffnete nur träge ein
Auge und schloss es gleich wieder.
»Dann
eben nicht.« Sie dachte daran, dass im alten Ägypten Katzen als heilige Tiere
verehrt wurden, noch heute galt in China die Katze als Glücksbringer oder als
Symbol für Vollkommenheit. Im Mittelalter hingegen wurden sie als Hexen
verbrannt. Sie fand es immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich ein und
dieselbe Sache aus verschiedenen Blickwinkeln gesehen werden konnte.
Sie
schaltete den Fernseher ein.
Zoffende
Paare, essende exotisch gekleidete und zurechtgemachte Menschen, Promi-Dinner.
Mit
Heißhunger verspeiste sie die Mozzarella-Tomaten. Der Marzemino schmeckte
ausgezeichnet. Sie ging in die Küche, um sich ein weiteres Glas einzuschenken,
und nahm die Flasche mit ins Wohnzimmer. Als sie zurückkam, gab ein Politiker
mit wichtiger Miene eine sprachliche Endlosgirlande von sich, ohne etwas
Substanzielles zu sagen. Auf so was konnte sie wahrlich verzichten. Sie zappte
weiter. Eine Sendung über vermisste Kinder in Deutschland. Da blieb sie hängen.
»Er war
plötzlich weg«, sagte eine Mutter mit traurigem Gesicht und bebenden Lippen.
»Von einem Moment auf den anderen. Wir dachten noch, er kommt gleich wieder.
Aber seitdem ist er verschwunden. Und niemand weiß, wo er ist. Er hat mit
seinem Bagger im Sandkasten gespielt. Wir sind ja eine ländliche Gegend, da
kann man sein Kind mal eine viertel Stunde unbeobachtet draußen spielen lassen.
Normalerweise. Aber als ich rauskam, war er weg. Sein Bagger lag im Sand, und … « Nein,
das wollte sich Franca nun doch nicht antun. Es reichte, wenn sie im
Berufsleben mit solchen unvorstellbaren Dingen konfrontiert wurde. Sie drückte
weiter auf die Fernbedienung. Irgendwas zur Entspannung musste doch auf einem
der zahllosen Kanäle sein. Und wenn es nur ein seichter Liebesfilm war.
Es
klingelte. Irritiert lauschte sie einen Moment. Nochmaliges Klingeln.
Tatsächlich: Es kam von ihrer Wohnungstür. Nicht aus dem Fernseher.
Sie
stand auf, lief über den Flur und öffnete. Vor ihr stand ein unbekannter Mann,
schätzungsweise Ende 30 oder Anfang 40, groß, dunkelblonde Haare, blaue Augen.
Markante Gesichtszüge. Er legte den Kopf ein wenig schräg und lächelte sie
charmant an. Siegfried, schoss es ihr durch den Kopf. Genauso hatte sie sich
früher Siegfried, den Drachentöter, vorgestellt, als sie die Nibelungensage in
der Schule durchnahmen. Breitschultrig, muskulös und gut aussehend.
»Hallo.
Mein Name ist Benjamin Jacobs. Ich bin Ihr neuer Nachbar.« Er sah ihr tief in
die Augen. »Ich bin in die Wohnung unter Ihnen eingezogen und wollte mich
vorstellen.«
»Ach!«
Franca war überrascht. Manieren hatte er auch. In diesem Haus wechselten öfter
die Bewohner, aber die Freundlichkeit, sich den Nachbarn vorzustellen, hatten
bisher nur wenige gezeigt.
»Franca
Mazzari«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Wollen Sie einen
Moment reinkommen?«
»Wenn
ich nicht störe.«
»Ich
sehe gerade fern. Ein berauschendes Programm, bei dem Sie wahrhaftig stören.«
Sie kicherte albern und machte ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. »Ich habe eine
Flasche Rotwein offen.«
»Lieblich?«,
fragte er.
»Wer,
ich?« Franca biss sich auf die Zunge. Sie hatte offenbar schon ein wenig zu
tief ins Glas geschaut.
»Sie
auch«, er lachte. »Ich meinte aber den Wein.«
Franca
schüttelte sich. »Lieblicher Wein! Sagen Sie bloß, so was mögen Sie? Der
Marzemino ist trocken, um nicht zu sagen … « Nein,
das sagte sie besser nicht.
»Marze…
wie?«
»Marzemino.
Ein Rotwein aus dem Trentino. Da stammte mein Vater her«, begann sie zu
erklären. Wieso
Weitere Kostenlose Bücher