Vulkanpark
erzählte sie eigentlich diesem wildfremden Mann ihre
Familiengeschichte?
»Ihr
Vater ist Italiener?«
» War Italiener. Er ist schon lang verstorben. Ab und zu überfällt mich die
Nostalgie. Wie ist es, wollen Sie den Marzemino nicht wenigstens probieren?«
Mit Schrecken bemerkte sie, dass die Flasche fast leer war. »Oh«, sagte sie.
»Tut mir leid. Kaum noch was drin. Aber ich hab noch eine Flasche in Reserve.«
Er
grinste. »Ich würde ein Bier bevorzugen.«
»So was
gibt es in meinem Haushalt leider nicht. Wie wär’s mit Wasser?« Wieder kicherte
sie. »Das ist die einzige Alternative, die ich Ihnen anbieten kann. Oder warten
Sie, ich glaube, ich hab da noch ein liebliches Schätzchen. Setzen Sie sich
doch schon mal.«
Zu
ihrem letzten Geburtstag hatte ihr Team-Kollege Bernhard Hinterhuber, dessen
Schwiegereltern ein Weingut an der Mosel betrieben, eine Flasche Eiswein
geschenkt, einen süßen Dessertwein, den sie wahrscheinlich nie trinken würde,
obwohl der sicher ziemlich teuer war. Nun bot sich die Gelegenheit, ihrem neuen
Nachbarn damit eine Freude zu machen.
»Was
halten Sie davon?«, fragte sie Siegfried, der Benjamin hieß, und hielt ihm die
Halb-Liter-Flasche Eiswein entgegen.
»Wenn
ich ehrlich bin, ich verstehe nichts von Weinen. Aber mit trockenen können Sie
mich jagen. Wahrscheinlich bin ich ein Banause. Aber ich stehe dazu.«
Spitzbübisch grinste er sie an.
»Das
gefällt mir«, sagte Franca und holte einen Korkenzieher.
»Dass
ich ein Banause bin?« Sein Grinsen wurde breiter.
»Dass
Sie ehrlich zugeben, wo andere ein Riesenbohei drum machen.«
Der
Wein gluckerte wie Öl und war ebenso gelb. Gut, dass er einen Abnehmer gefunden
hatte.
»Sie
wohnen hier allein?«, fragte er und ließ seinen Blick unverhohlen durchs
Wohnzimmer schweifen.
»Normalerweise … also
manchmal ist auch meine Tochter hier, Georgina, 17 Jahre alt«, sagte sie. »Wird
bald 18. Na ja, und da sie auch einen Vater hat, mit dem sie sich gut versteht,
lebt sie mal hier, mal da, wie sie grade Lust hat.«
»Und
das geht so unkompliziert?«
»Klar.
Wenn die Eltern es unkompliziert machen, finden es auch die Kinder
unkompliziert. Und Sie?« Franca lächelte ihren neuen Nachbarn zuckersüß an. Der
hatte es doch tatsächlich geschafft, sie auszufragen, und sie wusste bis jetzt
lediglich seinen Namen und seine Getränkevorliebe.
»Ich
finde, Sie haben eine erotische Stimme«, sagte er und sah sie wieder an mit
einem Blick, der ein warmes Rieseln in ihrem Inneren verursachte.
»Nur
die Ausläufer einer Erkältung«, gab sie zurück. »Und im Übrigen keine Antwort
auf meine Frage.« Sie spitzte die Lippen. Ihr war ein wenig schwindlig.
Ȇber
mich gibt’s nicht viel zu erzählen«, sagte er nach einer Weile und hob sein
Glas. »Mein Vater war Lehrer, meine Mutter Hausfrau. Eine ganz normale
Familie.«
»Sind
beide verstorben?«, fragte Franca.
Er
nickte.
»Haben
Sie Geschwister?«
Er
zögerte einen Moment. Dann schüttelte er den Kopf.
»Ich
bin auch ein Einzelkind«, erwiderte sie, »und das hat mir immer gut gefallen.
Es gab nie eine Konkurrenz, die mir die Liebe zu meinen Eltern streitig gemacht
hätte.«
Er
strahlte sie an. »Genau wie bei mir.«
9
Dorothee lag bereits im Bett,
als Michael nach Hause kam. Sie lächelte, als sie hörte, wie er erst die Tür
zum Kinderzimmer öffnete und den Kleinen wahrscheinlich sanft über die Köpfchen
strich. Das machte er jedes Mal, wenn er spät heimkam. Nach einer Weile wurde
die Schlafzimmertür einen Spaltbreit geöffnet.
»Bist
du noch wach?«, flüsterte er.
»Hmm.«
Sie richtete sich ein wenig auf. »War’s schön?«, fragte sie.
»Na ja.
Wie es halt so ist unter Männern.« Er unterdrückte ein Lachen. »Und bei dir?
Hast du noch jemanden finden können fürs Theater?«
Sie war
froh, dass sie die Karten nicht hatte zurückgeben müssen. Bianca war eine
angenehme Begleitung, und bei ihrer Stieftochter waren die Kinder gut
aufgehoben. Georgina hatte sich äußerst positiv über die beiden geäußert, sie
hätten überhaupt keine Schwierigkeiten gemacht und seien friedlich ins Bett
gegangen, nachdem sie ihnen eine Gutenacht-Geschichte vorgelesen hatte.
»Das
Stück war gut gespielt. Und das Thema ist halt immer noch aktuell. Ich denke,
es hätte dir gefallen.«
Er
brummte irgendetwas Unverständliches und verschwand ins Bad.
Endstation
Sehnsucht . Was für ein Titel. Dabei war es nur der Name einer
Straßenbahnhaltestelle. Aber ein Titel, der
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