Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
Vom Netzwerk:
tiefe Stille. Anders saß fast
den ganzen Nachmittag mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, die Beine in Bereitschaft,
davonzulaufen, sollte es nötig werden. Er saß da, lutschte Karamellen und
lauschte. Das Einzige, was er hörte, war das Tippen einer Schreibmaschine, das
nach etwa einer Stunde einsetzte und ohne Unterlass weiterging. Endlich stand
Anders auf und klopfte. Er wusste nicht genau, warum, aber er klopfte. Die Tür
öffnete sich einen Spalt. Durch ihn sah er das müde Gesicht des Mannes und ein
Regal voller Bücher.
    »Was
willst du?«, fragte der Mann in seinem mehligen Deutsch.
    »Ich kann
Ihnen Penizillin besorgen«, kam es aus Anders heraus.
    »Du kannst
was?«
    »Ich kann
Ihnen Penizillin besorgen«, sagte Anders noch einmal, auf Englisch, so gut er
konnte. »Kostet Sie was.«
    »Ich habe
nichts, was ich noch verkaufen könnte.«
    »Sie haben
Bücher.«
    »Die sind
nicht zu verkaufen«, sagte Pavel, jetzt auch auf Englisch, und schloss die
Tür.
    Anders
ging davon und dachte, dass der Mann in seiner eigenen Sprache weit schroffer
klang als auf Deutsch.
     
    Er ging wieder hin. Es gab keinen
Grund dafür. Er konnte es sich nicht leisten, Medizin zu verschenken, und er
schuldete dem Mann auch nichts, dennoch ging er wieder hin. Zweimal saß er
einfach nur da, draußen vor der geschlossenen Tür, und lauschte der
Schreibmaschine, zählte die Buchstaben und Zeilen, die mit einem Klingeln
endeten. Das vierte Mal brachte er eine Flasche Minzlikör mit, weil er gehört
hatte, dass der guttat, wenn man krank war. Er stellte ihn auf die Türschwelle,
klopfte und rannte davon. In der Woche danach mied er das Haus. Er lief mit der
Bande herum, nahm Freier aus und schlug verschiedene Sachen auf dem
Schwarzmarkt los. Das Wetter wurde schlechter und schlechter. Anders kaufte
sich Stiefel und eine Decke von seinen Einnahmen. Es waren alte
Wehrmachtsstiefel, drei Nummern zu groß und schwer wie Blei. Stolz marschierte
er in ihnen herum und sorgte dafür, dass sie ihn nicht zurück zur Tür des
Mannes trugen.
    Dann, als
er schon dachte, davon losgekommen zu sein, fand er sich wieder auf dem Weg in
das Haus und die Treppe hinauf in den vierten Stock. Eine Stunde lang stand er
da, eine Hand auf dem Holz der Tür ruhend, und sagte sich, er gehe am besten
wieder. Aber er blieb. Er blieb und klopfte, schnell und laut, wie er es bei
den Feldjägern gesehen hatte, und überlegte in Windeseile, wie er nachträglich
Geld für den Likör verlangen könnte. »Sie haben ihn doch getrunken, oder etwa
nicht?«, wollte er ohne weitere Umstände fragen, und der Mann würde zugeben
müssen, dass er in seiner Schuld stand.
    Die Tür
öffnete sich, das heißt, Pavel öffnete sie, weit und ohne zu zögern. Er sah
Anders, sah, dass er allein war, sah die übergroßen Stiefel an seinen Füßen und
die Decke, die sich der Junge um die Schultern gelegt hatte. Er zeigte keine
Reaktion, nichts, was dem Jungen etwas gesagt hätte. Pavel drehte sich nur auf
dem Absatz um und ging hinüber zu dem Sessel, aus dem ihn das Klopfen geholt
hatte. Er setzte sich, zog sich einen Mantel über Beine und Schoß und griff
nach dem Buch, das aufgeschlagen auf dem hölzernen Boden neben seinen Füßen
lag.
    Das Buch
war eines von Hunderten. Sie säumten die Wände der Wohnung, standen auf
billigen Regalen aus rohen Spanplatten. Hunderte von Büchern, in Leder, Leinen
und harte Pappe gebunden, manche dick wie Anders' Faust, andere so dünn, dass
sie wie Zeitschriften aussahen, nur die Größe stimmte nicht. Unter ihnen
befanden sich einige, deren Seiten aussahen, als wären sie aus Gold gemacht,
und in einer Ecke ragte ein Stapel mit Bänden auf, die zu groß waren, als dass
sie auf das Regal gepasst hätten.
    Es gab so viele Bücher, dass man
sie riechen konnte, den Geruch von Papier. Anders hatte nicht gewusst, dass man
Papier riechen konnte.
    »Komm
herein oder bleib draußen, aber mach auf jeden Fall die Tür zu.«
    Anders
reagierte nicht. Seine Augen lagen fasziniert auf den Büchern. Er ahnte, was
sie auf dem Schwarzmarkt wert waren. Dafür konnte man viel Medizin kaufen. Er
ging zu ihnen hin und fuhr mit den Fingern über die Titel, die in die Rücken geprägt
waren.
    »Die sind
in verschiedenen Sprachen«, sagte er endlich, gegen seinen Willen beeindruckt.
»Lesen Sie die alle?«
    »Ja«,
sagte Pavel.
    »Ich
spreche Deutsch, Englisch und Russisch«, sagte Anders, und dann,
unerklärlicherweise ganz aufrichtig: »Nur ein bisschen Russisch. Zum

Weitere Kostenlose Bücher