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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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war
zu kalt für Schnee. Der Himmel war völlig blank geputzt, ohne eine Wolke.
Natürlich blieben die Wasserrohre im Haus zugefroren, und Anders musste das
Wasser von einer Pumpe in der Nachbarschaft holen. Am 20. wurden überall Zettel
angeschlagen, auf denen stand, dass es nur noch ein paar Stunden pro Tag Strom
gebe. Der Junge selbst konnte sich nicht so gut erinnern, aber er hörte die
alten Leute klagen, es sei schlimmer als während des Kriegs. Unten im Eingang
des Hauses hatte jemand eine »88« an die Wand geschmiert. Eines Morgens war die
Zahl da gewesen, und niemand wischte sie weg. Anders fragte Paulchen danach,
und der sagte ihm, dass die Zahlen für den achten Buchstaben des Alphabets stünden,
das H, und das Doppel-H bedeutete »Heil Hitler«.
    Jetzt, wo
er richtig hinsah, fand Anders mehr solcher Achten in Türeingänge und auf
Hofwände in ganz Charlottenburg geschrieben. Einmal sah er sie sogar mit
Kreide auf die grüne Plane eines englischen Militärlastwagens gekrakelt. In
jener Nacht lag Anders ausgestreckt neben Pavels Fiebergestalt und fragte sich,
ob an dem Gerücht, Hitler habe die Invasion überlebt und sein Reich würde sich
wieder aus der Asche erheben, wohl etwas dran sei. Er stand auf, schnitt ein
Stück Eis aus dem Eimer und steckte es sich in den Mund. »Heil Hitler«,
flüsterte er an den zackigen Kanten des Eises vorbei, nur so zum Ausprobieren,
und zuckte mit den Achseln. Ihm war es gleich, solange Pavel nur die Nacht
überstand.
    Das Fieber
wurde schlimmer. Anders konnte Pavels Temperatur nicht messen, aber er sah,
wie von der freiliegenden Haut seiner Wangen Dampf in die Kälte des Zimmers
aufstieg, und er legte eine Decke nach der anderen auf ihn. Der Kohleofen
brannte Tag und Nacht, aber seine Wärme war zu schwach, um den Raum zu füllen.
Anders kam es vor, als würden sie Geld verbrennen. Die Kohlepreise schossen in
die Höhe, und immer wieder ging die Rede von Leuten, die in ihren Betten
erfroren waren. Paulchen schickte Schlo' und ein paar andere schmale Jungen
der Bande die Nacht über in Kohleschächte und ließ sie ein paar Eimer
heraufschaffen, die er unter seinen Leuten verteilte. Sie schworen sich ewige
Treue. Die mit Familie versorgten ihre Väter, Mütter und besatzungsschwangeren
Schwestern. Die anderen heizten ihre Schlupflöcher und tauschten, was übrig
blieb, gegen Schokolade und Zigaretten. Anders brachte seine Kohlen heim zu
Pavel, setzte sich wenige Zentimeter vor den eisernen Ofen, stocherte im Feuer
und flehte es an, die Kälte zu durchbrechen, die kaum zwei Meter hinter ihm
aus dem Boden stieg.
     
    Der Kohlerauch hing so schwer in
der Luft, dass das Gesicht des Kranken ganz rußverschmiert war. Anders achtete
darauf, fünfmal am Tag ein Stück Eis abzubrechen und es mit der ofenwarmen
Hand gegen Pavels Lippen zu drücken. Wasser belebte Pavel, es weckte ihn auf.
Manchmal redeten sie, Junge und Mann, kamen jedoch nie auf den Zwerg zu
sprechen. Pavel versuchte zu lesen, musste aber aufgeben. Seine tief in den
Höhlen liegenden Augäpfel wirkten geschwollen und vermochten nichts klar in
den Blick zu nehmen. Anders sah ihn stundenlang an und war sich sicher, dass
Pavel sterben würde.
    »Heute
Abend«, flüsterte er in ein rußbedecktes Ohr und ging in Gedanken den Inhalt
des Fleischeimers durch. »Heute Abend koche ich dir was Gutes.«
    Seine Hand
kroch über Pavels trocken glühende Wange, und als er zu den Lippen kam, sah er,
wie sie sich vorschoben. Anders spürte den Kuss nicht. Er war ausgedörrt,
trocken und ohne Kraft.
     
    Pavel träumte, Tag und Nacht, den
immer gleichen Traum. Er war nackt und wälzte sich auf einem Berg roher Nieren.
Er suhlte sich wie ein Schwein, und der Geruch der Nieren füllte ihm die Nase.
Sein nackter Körper wand sich, und immer wieder öffnete sich der Himmel, noch
mehr Nieren regneten auf ihn herab, klebten an ihm, kaltes, klammes Fleisch auf
seiner Haut. Wenn er aufwachte, sagte er sich, das sei bloß das Fieber.
    Dann, früh
am Abend, wachte er wieder einmal aus seinem Traum auf und sah sie auf der
Anrichte. Er war überzeugt, dass es seine eigenen waren, und fühlte sich
richtig erleichtert. Sie lagen auf einem Teller, seinem letzten Stück
Porzellan, mitten auf der Anrichte. Lagen in einer runden Lache Blut auf einem
angeschlagenen Teller bester Meißner Manufaktur, mit ein wenig
darübergestreutem Rosmarin. Pavel lag reglos da, den Blick auf die Nieren
gerichtet, und tief in ihm begann ein hysterisches Lachen

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