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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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gefroren, was bedeutete,
dass man noch keinen Nachttopf brauchte. Anders lernte, die Krankheit nach
Pavels Gang einzuschätzen, nach dem Schatten, der ihm übers Gesicht strich und
die Lippen zu einem lügnerischen Lächeln zwang. Mal ging es schlechter, mal
besser, dann wieder schlechter. Einmal gaben die Nieren den Anlass für eines
dieser komischen Gespräche. Danach blieb Anders ein paar Nächte weg. Als er
zurückkam, ohne ein Wort, bedeutete er Pavel mit einer Geste, er solle weiter
vorlesen.
    Es kam so.
Sie saßen die Nacht über wach, Pavel betete in einer Ecke, eine kleine Mütze
im Haar und ein Stück Tuch fest hinter den Kopf gespannt. Er gebrauchte
seltsame ausländische Worte. Als er fertig war, drehte er sich um und hielt
sich die Nieren, die Augen vor Schmerz ganz nass. »Gott«, sagte Pavel, und das
Wort stand im Raum wie ein Untermieter, der schon zu lange mit seiner Miete im
Rückstand war. Es war nicht das erste Mal, dass dieses Thema auftauchte, auch
im Buch war hier und da die Rede davon, und die Kirchenglocken trugen es
morgens mit sich. Es kam mit den Gebeten, die Pavel jeden Abend sprach, und
stand auf einem guten Dutzend seiner Bücher, mit Sternen, Kreuzen und der
schlanken Sichel eines jungen Mondes. Anders dachte darüber nach und beschloss,
den Punkt zu klären.
    »Ich
glaube nicht an Gott«, sagte er. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe
nichts gegen ihn. Er hat seinen Nutzen, verstehen Sie. Er hält die Massen bei
der Stange.« Er machte eine abschätzige Geste.
    »Wer hat
dir das denn beigebracht?«
    »Niemand«,
sagte Anders stolz. »Das habe ich selbst kapiert. Oder aber es war der Krieg.«
    Er dachte
einen Moment darüber nach und fuhr sich mit der Zunge in eine Zahnlücke. Er
stellte fest, dass er an der Phrase Gefallen fand. Sie klang so schön.
    »Ja, der
Krieg hat mir das beigebracht. Es gibt keinen Gott.«
    Er sah zu
Pavel hinüber und sorgte dafür, dass es nicht so aussah, als sähe er ihn an.
Pavels Gesicht war blass und ausdruckslos. Er sieht aus wie ein Mädchen, dachte der Junge, oder wie eine Statue.
    »Stört Sie
das?«, fragte er.
    »Und was
ändert das für dich, ob mich das stört oder nicht?«, fragte Pavel, und als er
keine Antwort bekam, nahm er mit einem Schulterzucken ein Buch von dem Stapel
neben seinem Bett. Er fing stumm an zu lesen, und der Junge saß auf seinem
Hocker und tastete nach seiner Zahnlücke. So saßen sie vielleicht eine Stunde.
    »Es gibt
also einen Gott?«, fragte Anders endlich und wurde gleich rot, weil ihm seine
Stimme so kindlich vorkam.
    »Ich weiß
es nicht«, sagte Pavel nach einigem Überlegen. »Vielleicht schon.«
    Erneut
verfielen sie in Schweigen, der Mann las sein Buch, und in den Wänden kratzten
die Ratten.
    Später,
nachdem sie sich zum mitternächtlichen Essen eine Dose Sardinen geteilt hatten,
bückte sich Pavel, um den Jungen an sich zu drücken. Ablehnend und mit steifem
Rücken lag ihm Anders in den Armen.
    »Dafür bin
ich zu alt«, sagte Anders abschätzig.
    »Im
Gegenteil«, sagte Pavel. »Alt genug bist du
dafür.«
    Der Junge
verstand das nicht und hielt es für eine Lüge. Draußen in der Kälte fing er an
zu weinen und schimpfte sich bitter dafür aus. Er schwor sich, diesmal nicht
wieder zurückzukommen. Zwei Tage später zog er fest bei Pavel ein. Es war der
dritte Dezember. Am sechsten senkte sich die Kälte über die Stadt, anderthalb
Wochen danach kam Boyd zu Besuch, und am nächsten Morgen stahl Anders vier
ledergebundene Bände aus Pavels Privatbibliothek, um seinem Freund Penizillin
und eine Zitrone zu besorgen. Er hatte gehört, dass Zitronen guttaten, wenn man
krank war, besser noch als Minzlikör.
     
    21. Dezember 1946
     
    B oyd kam
weder an diesem Tag, dem 19. Dezember, noch am nächsten oder übernächsten Tag
zurück. Und es gab auch kein Penizillin auf dem Schwarzmarkt. Stattdessen
kaufte Anders eine verschimmelte Zitrone von einem gelbgesichtigen Deutschen,
der behauptete, ein Gewächshaus zu haben. Ein Gewächshaus? Und wie wollte er
das beheizen? Dazu kaufte Anders noch ein paar Fleischmarken der Kategorie I,
die er gegen sechs Pfund Innereien und einen Eimer für den Transport eintauschte.
Das Blut gefror auf dem halbstündigen Weg zurück zu Pavels Wohnung, und Anders
musste die Stücke für den Abend mit dem Eispickel herausschlagen. Das
Thermometer war auf dreißig Grad unter Null gefallen, und jeder Atemzug
schmerzte in der Brust. Es hatte vor Langem schon aufgehört zu schneien, es

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