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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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Auf einem breiten Gehweg hebt sich plötzlich ein Gitter, und August sieht eine Gestalt aus dem Schacht klettern. Der Mann lässt das Gitter hochgeklappt stehen und geht unter einen Baum, der noch Laub hat und ihn vor dem Nieselregen schützt, dort faltet er einen Schemel auseinander und setzt sich. Die sanften Bewegungen, mit denen er sein Brot auswickelt und zu essen beginnt, flößen August Vertrauen ein, er würde gern ein Gespräch anfangen. Schon während er auf ihn zugeht, nickt der Mann freundlich, sodass August sich gleich zu fragen traut: «Arbeiten Sie da unten?» «Möchten Sie ein Leberwurstbrot?», fragt der Mann kauend. «Danke, ich bin Vegetarier. Aber Hunger habe ich schon, hätten Sie auch eins mit Käse?» «Nur Radieschen.» August dankt und geht zum Essen in die Hocke. «Ja, ich bin Streckenläufer», sagt der Mann, als er hinuntergeschluckt hat: «Ich gehe nach Betriebsschluss die U-Bahn-Gleise ab, zehntausend Meter, jede Nacht. Ich räume Müll weg und tote Ratten und die Kadaver von Vögeln, die sich verflogen haben, manchmal Elstern und Krähen, aber meistens Tauben. Kennen Sie Ringeltauben? Haben Ringel am Hals, als hätte jemand aufgezeichnet, wo abgeschnitten werden soll. Manchmal rette ich auch Betrunkenen das Leben, die sich am gefährlichen Ort schlafen gelegt haben.» August malt sich die Arbeit des Mannes aus, das nächtliche Gehen: «Es muss schön sein, unterirdisch zu arbeiten und oberirdisch Pause zu machen», sagt er. «Je nachdem», antwortet der Mann, «an den Geruch gewöhnt man sich.» Und wie gut das Radieschenbrot schmeckt, denkt August. «Und Sie», fragt der Mann, «was treiben Sie hier? Anzugträger, trotzdem arbeitslos? Kann jeden treffen. Haben Sie alles, was Sie brauchen im Leben: Einkommen, Papiere, Krankenversicherung?» «Ich bin bloß krankgeschrieben, wegen Insomnie und Gehzwang. Seit fünf Wochen habe ich kein Auge zugetan. Ich kann mir schon gar nicht mehr vorstellen, wie es ist zu schlafen.» «Sie Armer», sagt der Mann, «gute Besserung. Möchten Sie noch ein Brot mit Kresse? Ich muss zurück auf die Gleise.»

    Einzelne Anlagen, Pavillons, gelegentlich ein Möbelhaus oder Warenlager, spärliche Gewerbevegetation, passend zu den Kiefern im Sand: der Stadtrand kein Wuchern, nur Krummholz kurz über der Baumgrenze. Auf einem Gelände steht eine große Baracke, eine ehemalige Lagerhalle. Am Dach ist ein Schild befestigt, Minnesota , alle neun Buchstaben in verschiedenen Farben: Die alte Lagerhalle ist eine Diskothek, jetzt, bei Tageslicht, menschenleer und verschlossen. August stellt sich vor, was hier früher einmal für ein Arbeitsleben gewesen sein mag. Da bemerkt er, dass die Diskothek auch in der Nacht nicht mehr zum Leben erwachen wird, die Kette am Tor ist schon verrostet.

    Verrammelte Buden, geschmückt mit Lebkuchen und Tannenkränzen, hinter einem Bauzaun, es ist, als wären in dem zwischengelagerten Weihnachtsmarkt die Spuren des Sommers gespeichert, die Stände haben heiße Monate hinter sich, in der Julisonne geschwitzt; jetzt sind sie eingestaubt und scheinen vergessen, dabei werden sie nur noch wenige Wochen dämmern müssen.

    Eine Unterführung, ein lichtscheuer Ort unter der Straße, mitten im Wald: eine eigentümliche Idee, dort, wo ohnehin viel zu viel Fläche ist, die Menschen unter die Erde zu verbannen. An der Wand der Unterführung prangt eine mannshohe Kalligraphie, hodenfürst , der Deckname des Sprayers?

    Jetzt schlafen, denkt August, schlafen; aber er ist ja dreißig, vierzig Kilometer von seiner Wohnung entfernt. Im Gehen ist nichts Befreiendes mehr, nur noch der Antrieb, weiterzugehen, mit klammen Fingern und verfrorenen Füßen, bis ans Ende der Stadt. Wo ist die Stadt nun zu Ende? Ihr Rand ist endlos, endloses Ausfransen; also bleibt August nichts anderes übrig, als immer weiterzugehen. Er verpasst nichts mehr, er ist ja immer wach; aber auch immer müde, benommen, nie richtig wach, immer wach, aber falsch, immer falsch wach, bekommt das meiste nur halb oder kaum mit, übersieht mehr, als er sieht, kann, so viel er wahrnimmt, so wenig festhalten, alles ist immer gleich wieder weg, er unterscheidet und begreift nichts, steht nur daneben, neben allem, neben sich, und guckt daran vorbei. Erschöpft, kann er nicht einschlafen, er läuft ja. Schleppt ein Bündel Empfindungen herum, Kopfweh, Nervosität, Kribbeln in Armen und Händen, und ständig die Gewissheit, gerade hier, gerade jetzt schuppt fleckenweise die Haut vom

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