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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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man, was er umgibt, nicht gesehen hat? Er erinnert sich an einen Wochenendtrip nach Paris, da sind sie mit der U-Bahn zur gelben Station Tuileries gefahren und von der Seite in den Garten geplumpst, einen Park ohne Stadt, unbegreiflich. Das Nahen des Stadtrands spürt man wenigstens an unterirdischen Vorzeichen, den immer längeren Abständen zwischen den Bahnhöfen, dem allmählichen Leerwerden der Waggons.
    Die dicken Türme und langen Wohnscheiben stehen da wie Findlinge, aber in fröhlichen, hellen Farben, und nicht in trostlosem Ödland, sondern umgeben von gepflegten Grünanlagen: erratische Blöcke hoher Wohnzufriedenheit. Am Rand der Stadt gibt es viel mehr Menschen als in ihrer Mitte. Ohne Kummer leben in massenhafter Verlassenheit, in dichtgedrängter Abkapselung, denkt August, das wäre was. Hier draußen fügen sich Einkaufszentren und Multiplexe harmonisch ins weitläufige Bild. Zwischen die mächtigen Blöcke haben sich hier und da flache Pavillons geschoben, gebrechliche Buden, kleine Verschläge; und manchmal werden Stände errichtet und Zeltplanen aufgespannt, zu Schwundmärkten, auf denen Vietnamesen billige Textilien anbieten, während Trinker ihre Tage an Imbissbuden verdämmern. Einmal findet August sich auf einem kleinen Ökomarkt wieder, wenige Verkäufer, wenige Kunden, ein Mann mit Kinderwagen kauft Steckrüben und Rapunzelsalat, die Planen der Marktstände flattern laut, und über den Platz fegt scharfer, nasser Wind.
    Erst spät ist ihm aufgefallen, dass in der Trabantenstadt keine Kirchen stehen. Dafür findet er Wahrsagekabäuschen und spirituelle Kioske, die nicht geplant waren. Ein wackliger Pavillon trägt das Schild Erweckung und Zungenreden . Vor einem großen Supermarkt steht ein Bauwagen mit der Aufschrift Geisterzauber und Zeichendeutung . An den Eingängen der Wohnblöcke finden sich, zwischen Müller und Blaschke, Nguyen und Weinstein, Klingelschilder wie Zukunftsschau oder Licht-Lose und Hellsehen oder Geheimkünste oder Bannungen . August drückt auf den Knopf Totenbeschwörung und Yogisches Hüpfen . Eine Frauenstimme meldet sich aus der Gegensprechanlage: «Hallo?» August fragt, ob er ohne Termin kommen könne. «Neunter Stock, dritte Tür links», sagt die Stimme, und der Summer ertönt. August fährt im Fahrstuhl hoch.
    Die dritte Tür steht schon offen, die Stimme fordert ihn auf, einzutreten. Er drückt die Tür auf und geht über Auslegware ins schummrige Wohnzimmer. Schön warm ist es hier, es riecht nach Räucherkerzen und Rosenwasser, an der Wand hängen Las Meninas . In einem Kissenhaufen sitzt eine magere Frau mit einem um den Kopf gewickelten Schal. August bleibt stehen; als die Frau ihn weder begrüßt noch auffordert, sich zu setzen, sagt er: «Sie wahrsagen? Sie beschwören Geister von Toten?» «Ich hole Ihnen herauf, wen Sie mir nennen», antwortet die Frau, und als August zögert, fragt sie: «Wen soll ich Ihnen denn heraufholen?» «August Kreutzer», sagt August. Die Frau, immer im Sitzen, kramt ein blaues Stoffsäckchen aus der Tasche und schiebt es unter ihr Hemd. Dann nimmt sie zwei Glöckchen, schließt die Augen und bimmelt leise, eine ganze Weile, räuspert sich, sagt: «Ja?», hebt ein wenig die zitternde Hand und bimmelt kräftiger, als fordere sie einen Weggehenden auf, stehen zu bleiben; das Bimmeln wird wieder sanfter, die Frau räuspert sich noch einmal und beginnt dann zu nicken, nickt ausdauernd, dabei sinkt ihr der Kopf langsam auf die Brust. Schläft sie etwa ein?, fragt sich August. Da bemerkt er, dass die Frau sich, im Schneidersitz, einige Zentimeter über die Kissen erhoben hat und in der Luft schwebt. Die Situation wird ihm unangenehm. Doch ehe er darüber nachdenken kann, wie die Sitzung abzubrechen wäre, lässt die Frau die Glöckchen fallen, springt im Schneidersitz zur Wand und knipst, die Beine in der Luft verschränkt, das Licht an, helles Halogenlicht; erst jetzt landen ihre Füße auf dem Boden. Verärgert sagt sie: «Warum haben Sie mich betrogen? Sie sind August Kreutzer. Sie sind nicht tot.» August ist bis über beide Ohren rot geworden. «Ein dummer Scherz», murmelt er, «selbstverständlich bezahle ich. Nehmen Sie Karte?» «Ich berechne den vollen Satz», sagt die Frau.

    Nachts um zwei scheint ihm, die Trabantenstadt finde erst um diese Zeit ganz zu sich selbst: der Bahnhof verlassen, die Straßen leer, nur wenige Autos, durch Motorengeräusch und Scheinwerfer lange sich ankündigend, tauchen auf und verschwinden.

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