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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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Genuss-Entdeckung – denken Sie das! Ich will nicht lavieren; direkt gesagt und kurzum: Operation Anabasis. Das Marktfenster ist weit offen, die Künstlichen Paradiese expandieren, allein in Russland machen wir zwei Millionen Quadratmeter, und ich übernehme den Osten – den kompletten Osten. Da werden Sie Augen machen. Der Osten ist ja größer, was sage ich, um ein Vielfaches größer als der Westen. Was hier Mall ist, ist dort Klitsche. Was hier groß ist, ist dort klein . Natürlich, wenden Sie ein: Retail-Hype, keiner will zu spät kommen; die Spreu trennt sich bereits vom Weizen, auf den ersten Grundstücken, die millionenschwer schienen, werden schon Tankstellen gebaut. Und dann hat es ja auch diese kleine Krise gegeben, Sie wissen schon … Einzelhandel zwar kaum betroffen, aber doch kleine Verzögerungen … Kreditklemmen und Investmentstaus … vorübergehende Leerstände … minimale Umbauten … Umso besser, sage ich Ihnen! Die Goldgräber gehen, die Wissenden kommen. Seien wir also schnell und langsam zugleich. Denken Sie das: Ihr Sprungbrett – zielgruppengerechte Architektur Kante an Kante mit dem Weltkulturerbe, den Blick auf die Chrysostomos-Kathedrale: Herr Kreutzer, Ihre Mega-Mall.
    August setzt sich aufs Sofa. Neben dem Bildband liegt die aufgeschlagene Zeitung auf dem Teetisch, die Werbeanzeige für eine Vierzigtausend-Euro-Uhr, mit dem Zitat:
Zeit ist, und sie tickt gleichmäßig
von Moment zu Moment.
(Isaac Newton)
    August nimmt eine Modafinil und schiebt die Rückertlieder in den CD-Spieler. Sie hat so lange nichts von mir vernommen, sie mag wohl glauben, ich sei gestorben! Xerxes hat gesagt: Sie müssen sich nicht sofort entscheiden. Es ist mir auch gar nichts daran gelegen, ob sie mich für gestorben hält. August legt das Violinkonzert von Berg ein, dem Andenken eines Engels . Andante – Allegretto. Praesens autem nullum habet spatium, steht in den Bekenntnissen: Gegenwart hat keine Ausdehnung, wir nehmen Zeiträume wahr, messen und vergleichen, aber wir messen Zeiten nur, indem wir ihr Vorübergehen wahrnehmen. Allegro – ins Adagio, pauz, mitten in den Bach-Choral, klingelt das Telefon. Zögernd setzt August den Kopfhörer ab und nimmt die Frauenstimme wahr, als steckte sein Kopf in einer großen Blase oder leeren Kirche, die Worte dringen hallend, bruchstückhaft herein; während sie aufs Band spricht, ist ihm Susannes Stimme unbekannt, es kommt ihm unwirklich vor, dass diese Stimme so oft zu ihm gesprochen haben soll. Was redet sie bloß? Vielleicht: Ich hätte gern mit dir gesprochen, aber offenbar willst du das nicht. Nicht mal nachts gehst du ran, mag sein, du hörst mir gerade zu. Kann man sich von zehn Jahren seines Lebens nicht anders verabschieden? Es ist nicht fair. Aber meinetwegen. Es scheint nichts mehr zu sagen zu sein zwischen uns. – August schämt sich, dass er, auf den Knien den Kopfhörer, aus dem noch leise das Konzert zu hören ist, reglos dagesessen und der Stimme zugehört hat. Er ist wie erstarrt gewesen. Doch er kann es nicht anders empfinden, alles, was sie angeht, geht ihn nichts an; und trotzdem ist ihm, als ginge etwas in ihm kaputt, eben jetzt, und er geht, wieder

    hinaus in die Nacht. Überrascht stellt er fest, dass auf der Straße eine Litfaßsäule steht, nur wenige Meter von seiner Haustür entfernt. Seit er hier wohnt, ist sie ihm nicht aufgefallen. Er geht um die Litfaßsäule herum, liest die Werbeplakate für Bolschoi-Ballett, Prager Puppentheater, Spanische Hofreitschule und erinnert sich an einen Schwarz-Weiß-Film, in dem eine Litfaßsäule in den Hades führt. Diese hier scheint ihm plötzlich ein Schornstein zu sein, und der Schornstein ein Vulkan, aber es hat so viel in ihn hineingeregnet, dass er erloschen ist; und die frisch gereinigten Straßenbahngleise sind leere Flussbetten. Wie konnten die Flüsse im Dauerregen austrocknen? Er geht ans Ufer, um zu sehen, ob der Regen auch den Fluss leer geschwemmt hat: Zum Glück ist er noch voll. Aber die Bank mit Flussblick ist noch immer verwaist. Er schließt die Augen: Ist die Welt jetzt verschwunden? Sorgen macht ihm das nicht mehr.

    Und, wo ist er? Ist er überhaupt noch in der Stadt? Schwer zu sagen. Er hat die U-Bahn genommen, bis zur letzten Station, deren Name immer nur eine Richtung bezeichnet hat, nie einen wirklichen Ort. Aber kann man an den Stadtrand fahren? Was ist das für ein Rand, an den man durchs Schwarze unter der Stadt gelangt ist, kann man am Rand sein, wenn

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