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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Kuttner
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immer wieder schrumpfen lassen.
    Ich nähe maßgeschneiderte Herrenanzüge im Wert von eintausend Euro pro Stück, ich bin alt genug, um zumindest theoretisch schon ein volljähriges Kind zu haben, und in dieser Küche fühle ich mich, als müsste ich nach dem Abendessen meine Zähne putzen und ins Bett. Ich wünschte, Pauli wäre hier, dann wäre ich wenigstens nicht das kleinste Kind im Raum.
    »Wie läuft’s denn sonst so?«
    Jetzt ist Vorsicht angesagt, ich probiere also erst mal ein optimistisches »Ziemlich gut!«.
    »Und mit deinem Modelkram?«
    »Ach, das ist ja nur so nebenbei. Ich geh hin und wieder auf Castings, aber im Grunde ist nie was Richtiges dabei.«
    »Da wird nie das Richtige dabei sein. Werbung ist scheiße!«
    »Na ja, ich gehe ja nicht ausschließlich auf Castings für Werbung, und außerdem hat die
eine
Werbung, die ich gemacht habe, mir ein ganz okayes Sparbuch beschert.«
    Fuck, jetzt bin ich so dermaßen auf der Verliererstraße.
    »Na, herzlichen Glückwunsch. Du kennst meine Meinung dazu, Luise. Wenn man es streng sieht, ist das Prostitution.«
    »Herrje. Deine Tochter ist eine Nutte. Das tut mir leid. So weit sollte es nie kommen!« Mir steigen die Tränen in die Augen. Immer der gleiche Scheiß. Papa weiß, dass ich jetzt gleich weinen muss, und bleibt deshalb mit dem Gesicht zum Herd stehen.
    »Ach komm, du weißt, was ich meine. Ich sag doch nicht, dass du eine Nutte bist. Aber streng genommen verkaufst du dich an ein Produkt oder einen Hersteller oder was weiß ich. Du wirst dafür bezahlt, etwas zu bewerben, was du unter normalen Umständen vermutlich nicht gut gefunden hättest.«
    Eigentlich habe ich schon verloren. Weiteres Kämpfen wird nur zu tieferen Wunden führen. Dennoch kann ich nicht anders.
    »Du hast doch gar keine Ahnung, ob ich das Produkt gut fand oder nicht.«
    »Wenn du es gut gefunden hättest, dann hättest du es doch ohne Gage bewerben können.«
    »Warum sollte ich das tun? In diesem Fall war ich Schauspielerin. Die für ihren Job bezahlt wird. Ich bin doch nicht berühmt oder so. Ich hab doch unseren guten Namen nicht an den Teufel verkauft!«
    »Wie du meinst.«
    Klassischer Vater-Abgang. Erst wird die Bombe mit ruhiger Hand geworfen, dann ist der Getroffene selbst schuld.
    »Ich gehe auf den Balkon eine rauchen«, murmle ich und stolpere aus der Küche, bevor ich richtig anfange zu weinen.
    Mann! Als wenn mich diese Problematik nicht selbst ausreichend beschäftigen würde! Das ganze Model/ Schauspieler-sein-Ding. Ich frag mich doch selber bei jedem Casting, ob das alles nur eitler Scheiß ist, eine phlegmatische Art, Geld zu verdienen, schlimmstenfalls sogar ein Akt hilfloser Minderwertigkeitsbewältigung. Aber was spricht denn gegen Eitelkeit? Mein Vater findet sich selbst doch auch ziemlich super, wenn er in seiner Tätigkeit als Programmleiter eines kleinen, eher linksgerichteten Verlages mal in irgendeiner öffentlichen Gesprächsrunde sitzt. Da freut er sich wie bekloppt über das eigene Wissen, den eigenen Intellekt, die eigene Schlagfertigkeit! Was gibt ihm also das Recht, über meine Eitelkeit zu richten?
    Aber es ist eh zu spät. All die Jahre väterlicher Infiltrierung haben ihren Job erfolgreich erledigt: Ich bin viel mehr Papas kleines Mädchen, als er weiß und mir lieb ist. Jeder Streit mit Castern oder Regisseuren oder Agenturen basiert ja darauf, dass ich mich nicht entscheiden kann: Geld und Kommerz (die eben doch oft Hand in Hand gehen) oder Glaubwürdigkeit und Vaterliebe.
     
    »Kommste rein essen, Lu?«, fragt mein Vater, der sich zu mir auf den Balkon gestellt hat, und beugt sich zu mir runter, um mir einen Kuss auf den Kopf zu geben. Zack, wieder Tränen! »Ach, Mensch, du weißt doch, dass ich das nicht böse meine. Ich möchte nur, dass du dir ab und zu über so was auch mal Gedanken machst!«
    »Mann, das mach ich doch die ganze Zeit!«, heule ich in seine Brust. Denn auf Bombe und Tränen folgt immer irgendwann eine Umarmung. Ich kann die ganze Papa-Luise-Choreographie auswendig.
     
    Pauli sitzt schon am Tisch und dreht riesige Nudelnester auf ihre Gabel.
    »Hast du geweint?«, fragt sie.
    »Pauli, du weißt, dass dieser Haufen Nudeln im Leben nicht in deinen Mund passt, richtig?«
    Sie streckt mir die Zunge raus und dreht weiter.
    Papa gießt uns Wein ein und Wasser für Pauli. »Gänsewein. Für meine olle Gans«, sagt er lächelnd. Das hat er schon vor fast dreißig Jahren zu mir gesagt. Kam damals in etwa genauso gut an wie

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