Wachstumsschmerz
sie aber funktionieren, werden sie als unumstößlicher Teil einer Wohnung akzeptiert. Sie sind einfach da, sind leise und nerven nicht. Herrje, jetzt tut es mir um die olle Schabracke fast selbst ein bisschen leid. Man kann ja eigentlich nie genug Dinge haben, die leise sind und nicht nerven.
Trotzdem wurmt mich diese Erkenntnis. Ich laufe, die Arme auf dem Rücken verschränkt, durch meine kleine Wohnung, um eine Bestandsaufnahme meiner Habseligkeiten und letztendlich meines Geschmacks zu machen. Eine große Teekiste mit indischen Zeichen drauf. Als Nachttisch. IKEA s Verkaufsschlagereisenstangenbett »Noresund«, ursprünglich schwarz, von mir aber nachträglich in der Farbe »Gold Hammerschlag« besprüht. Ein alter Alfons-Mucha-Kalender aus meiner Jugendstilphase. Meine Güte, wie alt bin ich? Neunzehn? Es fehlt eigentlich nur noch ein Poster von Audrey Hepburn, und ich kann gleich einen Mode-Blog eröffnen und anhand kleiner Videos Schminktipps geben.
Nichts zu sagen ist allerdings gegen meine Negerpuppe. Ein riesiges Stoffungetüm, ganze achtzig Zentimeter purer, aber unschuldiger Rassismus mit einem obszön großen Kopf, der so schwer ist, dass er der Puppe immer wieder auf die schmalen Schultern fällt und ihr so permanent einen ergreifend niedergeschlagenen Eindruck verleiht. Als wäre das nicht schon entsetzlich genug, wird das Ganze noch von einem furchterregenden Paar praller, aufgenähter Wurstlippen getoppt. Vollkommen undenkbar, dass so etwas heute noch verkauft würde, soweit ich weiß, hat mein Vater sie vor über zwanzig Jahren von irgendeiner Reise mitgebracht. Es gibt ein tolles Foto von der fünfjährigen Jana neben der Puppe. Beide sind in etwa gleich groß. Nur ist Janas Kopf bedeutend kleiner.
Eigentlich müsste ich mal ein Foto von Pauli neben der Puppe machen. Und dann eröffne ich eine Fotoausstellung mit dem Titel »Die Albrecht-Frauen im Wandel der Zeit«.
Doch letztendlich ist es wirklich merkwürdig, wie viel in den letzten Jahren passiert ist und wie wenig sich davon in meinem engsten Lebensraum widerspiegelt.
Memo
Ich schleiche schon seit Tagen in der Wohnung herum und berühre wie nebenbei Sachen, die dir gehören. Streiche scheinbar gedankenverloren an deinen Büchern entlang, schiebe ohne Notwendigkeit deine Schuhe im Flur hin und her, ordne die Zeitschriften auf deinem Nachttisch und überprüfe, wie lange die Remoulade, die du so gern auf deinen Broten magst, noch haltbar ist.
Jedes Mal, wenn ich Dinge berühre, die dir gehören, hoffe ich, mit den Fingern eine Stelle zu treffen, die du auch berührt hast. Als könnten deine Fingerabdrücke eine Art Wurmloch sein, das mich, wenn ich es nur an der richtigen Stelle treffe, direkt zu dir katapultiert. Als würde so vielleicht irgendeine Verbindung hergestellt. Selbstverständlich vermeide ich allzu offensichtlichen Kontakt. An dem großen Foto im Flur, auf dem du und Arne an irgendeiner Bergwand hängen, laufe ich immer leicht geduckt vorbei. Ich rieche auch nicht an deinem Kopfkissenbezug, wobei sich diese Stolperfalle seit gestern, als ich die letzte Maschine mit gemeinsamer, in unserem Haushalt immer etwas vernachlässigter Weißwäsche gewaschen habe, auch erledigt hat. Ich vermeide es, dein Haarspray zu benutzen, und ich quäle mich auch nicht unnötig, indem ich alleine zu Manfred Krug tanze oder ohne dich »Lost« sehe (wobei ich wirklich bald mal das Finale sehen muss!). Die einzige Geißel, die ich mir erlaube, ist ein winziges bisschen gesteuerte Traurigkeit. Ein heimliches Ventil, um quasi einen emotionalen Aderlass zu ermöglichen. Erinnerst du dich noch an die Playlist, die du für unsere Einweihungsparty erstellt hast? In Anlehnung an den tollen Lesley-Gore-Song hieß sie »It’s our party!«. Ich habe meine eigene Fortsetzung davon gemacht. Sie heißt … »And I cry if I want to« und ist, natürlich, voller herzzermalmender Musik. Wusstest du, dass Billie Holidays Song »Gloomy Sunday« auch »Lied der Selbstmörder« heißt, weil sich angeblich zu dem Song unverhältnismäßig viele Menschen umgebracht haben? Der Song sollte sogar auf den Index. Stell dir das mal vor: ein Song so traurig, dass er verboten werden muss!
Und dann dieser »The National«-Song, den du mir so sehr ans Herz gelegt hast und den ich immer ignoriert habe, weil ich Lieder viel lieber selbst entdecke. Ich hätte früher auf dich hören sollen. »I was carried to Ohio in a swarm of bees«. Wie einsam es in einem Schwarm Bienen sein
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