Wachstumsschmerz
heute.
»Wie isses denn im Atelier? Läuft das gut?«
»Ja. Ältere Herren wird es ja immer geben. Die Opis brauchen Hemden und Anzüge, die ihnen passen, und ich nähe sie ihnen.«
»Du machst nur Herrenkram, oder?«
»Ja. Also ich könnte natürlich auch Damenmode machen, aber ich mag meine Kundschaft, und ich mag Anzüge. Also überwiegend Herrenkram. Wieso?«
»Nur so.«
Da Pauli mit dem faustgroßen Nudelballen auf ihrer Gabel wie erwartet völlig überfordert ist, essen wir eine Weile schweigend. Ich muss daran denken, dass in unserer Familie keiner wirklich gut kochen kann. Manchmal frage ich mich, wie unsere Eltern Jana und mich groß bekommen haben mit all dem schlecht zubereiteten Essen. Pauli hat Glück. Ihre Mutter ist eine wirklich gute Köchin. Bei ihr schmeckt sogar Schnittlauchstulle irgendwie französisch und aufregend. Schade, dass sie nicht da ist, dann wären sowohl das Essen als auch die Stimmung besser.
»Warum entwirfst du nicht eine eigene Modekollektion oder so?«, fragt mein Vater, nachdem er sein Besteck abgelegt und den leeren Teller von sich geschoben hat. Ich sehe ihm an, dass er lange mit sich gerungen hat, bevor er sich dafür entschieden hat, die Frage zu stellen. Der alte Wadenbeißer weigert sich abzulassen.
»Keine Ahnung. Ich wüsste nicht, weshalb.«
»Na ja, zum einen ließe sich damit bestimmt irgendwann ganz okay Geld verdienen, zum anderen ist es doch sicher aufregend. So eine komplette eigene Kollektion?«
»Hm. Aber was spricht denn dagegen, einfach weiterhin Anzüge für meine Kunden zu schneidern?«
»Na, im Prinzip nichts. Aber du hast noch so viele Möglichkeiten! Weshalb nicht verschiedene Dinge ausprobieren? Dich weiterentwickeln. Wenn keine Kollektion, dann vielleicht Kostüme fürs Theater! Das ganze verrückte Rokoko-Zeugs zum Beispiel. Oder irgendwas abgefahren Futuristisches!«
Es tut sich ein Scheideweg auf. Ich habe im Prinzip zwei Möglichkeiten, dieses Gespräch weiterzuführen. Und weil ich erschöpft bin, wähle ich die einfachere: »Ja, vielleicht hast du recht. Ich denk mal drüber nach.«
Während mein Vater nun ganz Feuer und Flamme ist und diverse Theaterstücke aufzählt, bei denen er sich tolle, von mir geschneiderte Kostüme vorstellen könnte, kratze ich mit meiner Gabel auf dem leeren Teller rum und ziehe Pauli Grimassen, die ganz begeistert zurückfratzt und immer hysterischere Gesichter vorführt.
»Papa, mir ist langweilig! Du hast gesagt, nach dem Essen spielt Luise mit mir!«
»Ich hab gesagt, ihr könnt noch was lesen! Mach dich bettfertig, und dann kannst du Luise zeigen, bei welchem Buch wir grade sind.«
Pauli macht heimlich das internationale Zeichen für Kotzen und schlurft sehr langsam ins Bad. Dabei stößt sie Schnaufgeräusche aus und ruft: »Ich bin ein Zug!«
»Du bist der verdammte Zug of Love!«, sage ich und laufe ihr hinterher, um der Planung meiner Zukunft durch meinen Erziehungsberechtigten zu entkommen.
W ir tanzen zu »Gestern war der Ball«. Unser allerliebster Manfred-Krug-Song. Direkt gefolgt von »Du sagtest leider nur ›Gut Nacht‹« und »Wenn’s draußen grün wird«. Wenn wir Engtanz wollen, hören wir Frank Sinatra oder Paul Anka, aber heute braucht es Krug’sche Zackigkeit, also spacken wir rum, was das Zeug hält, und machen Bewegungen, die wir für Beat halten. Flo und ich sind eher schüchterne Tänzer, was das Ausgehen in Clubs angeht. Aber wenn wir unter uns sind, geben wir alles.
Alles
ist in unserem Fall nicht besonders viel, da wir beide nicht so richtig Ahnung haben, vor allem was klassische Tänze angeht. Also schieben wir einander einfach langsam durch die Gegend, wenn Sinatra läuft, und imitieren, so gut es geht, die Jugend der 60 er bei Krug.
Kurz vor dem Refrain und somit Flos liebster Stelle werden seine Augen fiebrig, und er bewegt sich vor lauter Konzentration ganz abgehackt. Ich tease an: »… und mir wiiiiird …«, und dann explodiert Flo und singt » SCHWARZ VOR DEN AUGEN
,
ICH SEHE LILA UND GRÜN !«, und ich bemerke, dass er den gleichen Gesichtsausdruck hat wie beim Orgasmus. Denn Flo lächelt immer ganz entrückt, wenn er kommt, und jetzt kommt er auch, nur anders, aber ähnlich gut, und Manne Krug geht selber ab wie Schmidts berühmte Katze und singt verrückten »Schubididubadabadambidubididum«-Kram, und wir schwitzen, weil wir uns in eine kleine Ekstase getanzt und gesungen haben, und dann ist der Song aus, und wir fallen in uns zusammen und auf mein
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