Wachstumsschmerz
Schläfer, die Gefahr, dass sich einer in der Nacht trotzdem versehentlich in den Schlafbereich des anderen rumpelt, ist gering.
Leider stellten wir schnell fest, dass sich jeder ganz automatisch in der Mitte der eigenen Hälfte eingerichtet hatte. Augenscheinlich nutzt man Platz ganz automatisch, wenn man ihn hat. So entstand plötzlich Körperkontakt nur noch mit voller Absicht, nicht mehr durch Platzmangel. Früher mussten wir für ein wenig Freiraum bewusst auseinanderrutschen. Nun mussten wir für Körperwärme extra aneinanderrutschen. Heute denke ich, dass die alte Variante die bessere war. Natürlich haben wir sofort dem Problem entgegenwirkende Regeln aufgestellt. Bevor wir einschlafen, müssen sich immer beide Kopfkissen berühren. Am besten übereinanderlappen. So ist man sich nah genug, um beim nächtlichen Umdrehen trotzdem noch die Hand an irgendein Körperteil des anderen legen zu können.
Jetzt muss ich neue Regeln aufstellen. Ich habe versucht, dein Bettzeug wegzuräumen. Wofür brauche ich die doppelte Garnitur? Aber weißt du, wie armselig ein 1 , 80 breites Bett mit nur einer Decke und einem Kissen aussieht? Und genau in der Mitte dieses plötzlich so riesigen Möbels zu liegen fühlt sich an, als wäre man in der Wüste zurückgelassen worden. In alle Richtungen ist meterweit Platz! Ich habe nachgemessen: Mit an den Körper gelegten Armen bin ich etwa fünfzig Zentimeter breit. Das bedeutet, dass rechts und links von mir jeweils noch fünfundsechzig Zentimeter Platz sind. Meine Arme sind etwa sechzig Zentimeter lang, ich erreiche also noch nicht mal den Nachttisch, wenn ich in der Mitte liege! Und auch wenn es dem unlässigen Klischee entspricht: Es fühlt sich einsam an! Es hat überhaupt nichts mehr von einem gemütlichen und Sicherheit verströmenden Nest, einem Rückzugsort. Ich fühle mich eher wie auf einem dieser runden, sich drehenden Stripper-Betten. Würde die passende Musik einsetzen, ich würde vermutlich reflexartig anfangen, lasziv mit dem Hintern zu wackeln.
Also habe ich dein Bettzeug wieder draufgepackt und mich auf meine Seite verzogen. Auf ein so großes Bett gehören zwei Garnituren Bettzeug. Ich versuche, es jetzt einfach unter innenarchitektonischen Gesichtspunkten zu betrachten.
Pauli hat hier übernachtet. Das letzte Mal, dass sie hier war, ist ja schon ein paar Wochen her. Wenn man viereinhalb ist, vergisst man schnell, also musste ich mit ihr noch mal die gesamte Tour durch unsere Wohnung machen. Sie hat natürlich nach dir gefragt, weil sie dich lieber hat als mich, obwohl ich mit ihr verwandt bin. Aber vermutlich liegt da der Hase im Pfeffer begraben. Du bekasperst sie nur, ich versuche, meiner Rolle als Halbschwester hilflos gerecht zu werden, und bin strenger.
Wir haben zusammen gebadet, und du hättest es geliebt! Als wir uns ausgezogen haben, hat sie auf meinen Bauch gezeigt und gefragt: »Ist da ein Baby drin?« Dabei esse ich so gut wie nichts, seit du weg bist. Ich habe ihr erklärt, dass da kein Baby drin sei, nur unser Abendbrot. »Wir haben aber gar nicht viel gegessen …«, hat sie verständnislos gemurmelt. Kindermund tat auch wenig später noch mal Wahrheit kund. In der Wanne stellte sie vollkommen konsterniert fest, dass meine Brüste viel kleiner seien als die von ihrer Mama. »Du bist der Teufel!«, hab ich zu ihr gesagt und bin aus der Wanne gestiegen. Wir haben den ganzen »Tinti«-Quatsch gemacht. Du weißt schon, diese Brausetabletten, die das Badewasser färben. Pauli will immer rot, ich bin jedes Mal entsetzt: Das Kind sitzt in einer Wanne voller Blut. Ich habe dennoch ein Foto davon gemacht, damit ich es dir mal irgendwann zeigen kann. Es sieht aus wie die letzte Szene am Ende der vierten Staffel von »Dexter«!
Später haben wir noch ein bisschen ferngesehen. Weil ich Trickfilme so nervend finde, haben wir »Popstars« gekuckt. Pauli saß gebannt vor dem Fernseher und flüsterte irgendwann ehrfürchtig: »Das ist so ein schöner Film!« Das Kind kommt ganz nach dir.
Neben Pauli zu schlafen ist anstrengend. Ich schlafe immer nur halb, wenn sie da ist. Ich vermute, dass versteckte mütterliche Automatismen in mir mich die ganze Nacht lang unbewusst Wache halten lassen. Ich teste tatsächlich ein- bis zweimal pro Nacht, ob sie noch atmet. Und dann ist Pauli einfach ein verdammter Bettakrobat. Ich bin mehrfach davon aufgewacht, dass sie ihre winzigen Beine komplett über mein Gesicht gelegt hat. Ich habe sie dann wieder in die richtige
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