Wachstumsschmerz
jeder seinen eigenen Satz allein beenden? Warum finden Sie es so romantisch, den anderen zu unterbrechen und seinen Satz zu beenden?«
Darüber muss ich kurz nachdenken. »Nun, vermutlich weil es bedeutet, dass man sein Gegenüber so gut kennt, dass man genau weiß, was er sagen möchte.«
»Aber das ist doch furchtbar! Wenn Sie immer genau wissen, was Ihr Partner sagen will, kann er sie ja überhaupt nicht überraschen. Er kann Ihnen ja nichts Neues erzählen. Er ist somit vollkommen uninteressant für Sie!«
»Flo ist nicht uninteressant für mich«, protestiere ich. »Ich kenne ihn nur eben sehr gut. Und finde das schön. Tröstlich. Angenehm. So nahe an jemandem dran zu sein, dass ich seine Gefühle sehen kann.«
»Aber zu hören bekommen Sie sie nicht? Oder was meinten Sie mit der fehlenden Kommunikation?«
Im Geiste habe ich das Thema um das Beenden der Sätze des Partners noch nicht ganz abgeschlossen, um aber im Gesprächsfluss zu bleiben, lege ich es auf meiner inneren To-do-Liste ab, um später noch mal in Ruhe darauf rumzudenken.
»Ja. Also nein. Er teilt seine Gefühle nicht mit. Überhaupt nicht. Zumindest nicht die problematischen.«
»Was sind denn die problematischen Gefühle?«, will Erich wissen, während er sich einen ordentlichen Vorsprung erraucht.
»Sie wissen schon: Unzufriedenheit, Schmerz, alles, was theoretisch zu einem Streit eskalieren könnte.«
Erich denkt nach und sagt schließlich: »Würde das Mitteilen dieser Gefühle denn tatsächlich zu einem Streit eskalieren?«
»Ich weiß es nicht. Fakt ist aber, dass das Nichtmitteilen dieser Gefühle oft zu einem Streit eskaliert. Denn ich kann sie ja trotzdem sehen, die Gefühle. Ich kann sehen, wie Flo sie runterschluckt und zu verstecken versucht. Das macht mich wahnsinnig. Daher verstehe ich einfach nicht, weshalb er nicht einfach sagt, wie es ihm geht, um so vielleicht sogar einen Streit zu vermeiden. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Sie wissen natürlich selbst, dass die Herren der Schöpfung tendenziell eher maulfaul sind, was das Teilen von Gefühlen angeht, richtig?«
»Ja. Aber sich jedem Problem komplett zu verweigern führt auch nicht ins Gelobte Land. Es muss doch ein Mittelweg möglich sein. Stattdessen haben sich die Fronten immer mehr verhärtet.«
»Haben Sie mal einen Mittelweg versucht?«
»Wie sollte der aussehen?«
Ich trete meine Zigarette aus und halte Erich die Tür ins Atelier auf. Wieder droht er sich, beim Versuch, den Schirm außerhalb des Raumes auszuschütteln, beide Arme zu amputieren.
Während es draußen inzwischen komplett dunkel geworden ist, hat Maja/Miriam Tee auf meinem Arbeitstisch abgestellt, und ich gebe den Vorsatz, heute noch irgendetwas zu nähen, auf. Mein neuer Freund scheint tatsächlich Zeit mitgebracht zu haben, und es ist seltsam angenehm, mit einem nahezu Fremden über Flo zu sprechen. Mit jemandem, der überhaupt nichts weiß, dem ich alle Basics kurz und einfach erklären muss. Irgendwie bringt es Ordnung in meinen Kopf.
»Wie empfinden Sie denn diese Pause bisher? Fühlen Sie sich Ihrem Freund inzwischen wieder näher?«
»In erster Linie fühle ich mich mir selbst wieder näher. Durch den fehlenden Druck kann ich mich besser orientieren. Mich entspannter bewegen. Mein Tanzbereich fühlt sich weiter an.«
»Ihr Tanzbereich?«
»Na, mein Bewegungsradius. Oder so.«
»Sie fühlen sich also besser, ohne Ihren Freund?« Erich runzelt besorgt die Stirn, und mir wird bewusst, wie traurig sich das anhört.
Aber so ist es gar nicht. Indem ich meine Beziehung kurz mal zur Seite gelegt habe, scheint so viel Last von mir gefallen zu sein, dass ich mir die anderen Befindlichkeiten, die mich wiederum so empfindlich gegenüber Flo gemacht haben, viel entspannter ansehen und einschätzen kann. Um plötzlich festzustellen, dass alles bedeutend weniger wild ist, als ich mir selbst suggeriert habe. Was mir wiederum die Kraft und vor allem Lust zu geben scheint, Flo wieder vom Boden aufheben und schultern zu können.
»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, schultern Sie ihren Freund nicht sofort. Nutzen Sie die ganzen vereinbarten vier Wochen aus und tanzen Sie noch ein wenig allein in Ihrem, ähm, Tanzbereich.«
Ich kratze Kreide von meinem Arbeitstisch und nicke vor mich hin. Nicht weil ich zustimme, sondern weil ich Erichs Worte ein wenig zerdenken muss.
»Sie nicken, als wenn Sie den alten Mann ob seiner weisen Worte nur in Sicherheit wiegen wollten. Vermutlich werden Sie Ihren
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