Wachstumsschmerz
auf.
»Danke schön. Einen Schirmständer haben Sie wohl nicht, was?«, fragt der Mann und sieht sich um.
»Nein. Leider nicht. Stellen Sie ihn doch einfach in die Ecke«, schlage ich vor und mustere meinen potentiellen Kunden sehr genau, denn er kommt mir bekannt vor. Ich bin nicht besonders gut mit Gesichtern. Mit Namen erst recht nicht. Wenn ich zu meinen Eltern nicht einfach Mama und Papa sagen dürfte, würde ich vermutlich sogar deren Namen regelmäßig vergessen.
»Entschuldigen Sie, doofe Frage: Aber kennen wir uns?«, frage ich und schiebe hinterher: »Herrje, das klingt wie ein abgedroschener Anmachspruch, was?«
»Nun, ich möchte es mal so formulieren, Fräulein Luise: Sie schulden mir noch einen Tanz!«
»Ach, wenn Sie wüssten, wie vielen jungen Männern ich noch einen Tanz schulde!«, sage ich und streiche mir imaginären Staub von den Fingernägeln.
»Das glaube ich gern«, schmunzelt Theas Großvater.
»Wir haben uns auf der Hochzeit getroffen! Leider habe ich Ihren Namen vergessen, aber ich schwöre, dass ich seit diesem Abend jede Sekunde nur an Sie gedacht habe.«
»Nun werden Sie mal nicht frech. Erich war der Name.«
»Erich! Ach, wie schön Sie wiederzusehen. Woher wissen Sie, wo ich arbeite? Denken Sie auch jede Sekunde nur noch an mich?«, frage ich und helfe ihm aus dem nassen Mantel.
»Nun, Sie schienen mir ein gutes Auge und nicht minder gutes Händchen für Anzüge zu haben, daher habe ich mir die Freiheit genommen, meinen Schwiegerenkel nach Ihrem Kontakt zu fragen. Ich hoffe, dass ich Ihnen damit nicht zu nahe getreten bin.«
»Nein, nein! Treten Sie doch näher! Wollen Sie einen Tee? Kaffee haben wir leider nicht.«
»Vielen Dank, ein Glas Wasser würde vollkommen reichen. Ist das Frank Sinatra?«
»Ja. Aber wenn Sie möchten, kann ich auch was Aktuelleres auflegen«, biete ich an. »War ja weit vor Ihrer Zeit, Frank Sinatra.«
»Nein, Sinatra ist wunderbar. Wir jungen Dinger mögen diese Alt-Herren-Musik ab und zu ganz gern. Es ist nur ein wenig verwirrend, dass Sie im Oktober bereits ›White Christmas‹ spielen«, sagt Erich und lässt sich mit einem winzigen Schnaufen auf einen der zwei Stühle fallen.
Nachdem ich ein Wasser gebracht und die Musik ein wenig runtergedreht habe, setze ich mich meinem neuen Kunden gegenüber und frage mit sehr professionellem Gesicht: »Was kann ich für Sie tun?«
»Das, was Sie offensichtlich am besten können, mir einen Anzug anfertigen.«
Ach, schön!
Anfertigen
.
»Ich fertige Ihnen mit dem allergrößten Vergnügen an, was immer Sie möchten, allerdings muss ich Sie darauf hinweisen, dass ich dieser Tage schon ganz schön ausgelastet bin.«
»Sagen Sie das nur, um den Preis in die Höhe zu treiben?«, fragt mich Erich amüsiert.
»Ja. Funktioniert es?«
»Weiß ich noch nicht. Bis wann könnte er denn fertig sein, der Anzug?«
Ich schiebe kurz im Kopf diverse bestehende Aufträge, Zahlen und Befindlichkeiten hin und her und komme zu einem realistischen, wenn auch vielleicht etwas unbefriedigenden Ergebnis: »Nun, vier Wochen werde ich mindestens brauchen. Früher schaffe ich es wirklich nicht.«
»Das ist vollkommen in Ordnung. Und gut Ding will schließlich Weile haben, sagt man das nicht so?«
»Das sagt man so!«
Nachdem wir die Details durchgesprochen haben, bitte ich Erich, sich ein paar seiner Kleidungsstücke zu entledigen, damit ich ihn ausmessen kann.
»Wie geht es eigentlich Ihrem Freund? Hat er Sie davon abgehalten, mit mir zu tanzen auf der Hochzeit? Sie waren so schnell verschwunden.«
»Ach«, sage ich nur, weil mir tatsächlich nicht mehr einfällt.
»Ach?«
»Ach!«, bestätige ich und hebe leicht Erichs Arme an, um seinen Brustumfang messen zu können.
»Nun denn. Ach.«
»Sind Arne und Thea denn glücklich?«, frage ich, weniger aus echtem Interesse als aus der bestehenden Notwendigkeit, dem
Ach
-Teufelskreis zu entkommen.
»Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es nicht so genau. Ich weiß ja nicht, wie oft Sie mit Ihren Großeltern sprechen, aber die beiden leben ihr komplett eigenes Leben und teilen sich nicht besonders viel mit. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich halte das für einen ganz normalen Prozess.«
»Wären Sie gern involvierter?«, frage ich und überlege, wann ich das letzte Mal mit meinen Großeltern über wirklich relevante Themen gesprochen habe.
»Nein, eigentlich nicht. Im Grunde geht mich das Leben meiner Enkel auch nichts an. Zumindest nicht so detailliert. Solange ich
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