Wachstumsschmerz
weiß, dass sie leben und halbwegs zufrieden sind, bin ich es auch.«
»Allein das ist ja nicht besonders einfach«, stelle ich mit einem Anflug Herbst im Herzen fest.
»Was? Das Am-Leben-Bleiben?«
»Nein, das Zufrieden-Sein.«
»Was ist daran so schwer?«, fragt Erich vollkommen vorwurfsfrei, aber ernsthaft neugierig.
»Nun ja, ich weiß nicht. Ich bin es einfach viel zu selten. Es scheint mir nicht so einfach zu sein.« Die letzten Worte vermurmle ich ein wenig, denn sie klingen laut ausgesprochen irgendwie doof und mimosenhaft.
»Vielleicht sollten Sie Ihre Ansprüche ein wenig zurückschrauben.«
»Mit Verlaub, Erich, aber diesen Vorschlag habe ich ja nun wirklich noch nie gehört.«
»Und Ihr Zynismus, wie sehr hilft der Ihnen dabei, zufrieden zu sein?«, fragt mich mein Gegenüber lächelnd.
»Sie wissen, dass ich die Frau mit den Stecknadeln bin, richtig?«
»Natürlich. Ich bin nur der alte Mann in langen Unterhosen, aber dennoch: vielleicht haben Sie den Vorschlag mit den Ansprüchen schon ein paarmal gehört, das bedeutet aber nicht, dass er nicht vielleicht ein bisschen wahr ist, oder?«
»Ich weiß es nicht«, sage ich und meine ich.
»Wie viel von Ihrem
Ach
vorhin hat denn mit Ihren Ansprüchen zu tun?«, fragt Erich und schiebt hinterher: »Ich hoffe, die Frage ist nicht zu privat.«
»Nein. Nicht zu privat. Aber auch nicht so leicht zu beantworten. Sie können sich wieder anziehen.«
Und während Erich hinter dem improvisierten Vorhang verschwindet, setze ich mich und lege die Stirn auf meinen Arbeitstisch.
»Mein Freund und ich machen grade eine Pause«, sage ich laut genug, damit Erich mich hinter seinem Vorhang hören kann.
»Eine Pause? Wovon?«
»Nun, von uns. Unserer Beziehung.«
»Sie haben sich also getrennt?«
»Nein. Wir machen eine Pause. Nur für ein paar Wochen. Vier.«
»Was soll das denn bringen?«, fragt Erich, während er hinter dem Vorhang hervortritt und sich auf den Stuhl gegenüber setzt.
»Ruhe. Entspannung. Abstand.«
»Und was soll das ändern: Ruhe, Entspannung und Abstand?«
»Eine klarere Sicht soll es bringen. Ich war nicht mehr glücklich.
Wir
waren nicht mehr glücklich. Alles war irgendwie verknotet und unbeweglich und furchtbar.«
»Und lieben Sie einander noch?«
»Keine Ahnung. Ja.«
»
Keine Ahnung, ja
?«, fragt Erich skeptisch.
»Ich weiß es nicht. Ich wusste bis vor einer Woche gar nichts mehr. Und der Abstand tut mir gut, ermöglicht mir, freier zu atmen, meine Gefühle für Flo, das ist mein Freund, zu sortieren. Ohne den Druck, jeden Tag als Freundin funktionieren zu müssen. Verstehen Sie das?«
»Und nun sehen Sie sich überhaupt nicht?«
»Nein. Eigentlich wohnen wir zusammen. Jetzt ist Flo seit fast zwei Wochen vorübergehend zu Arne gezogen.«
»Und da fragen Sie mich, ob Arne und Thea glücklich sind, wenn sie ihre Flitterwochen mit Ihrem rausgeworfenen Freund verbringen müssen?«
»Es war Flos Idee«, sage ich plötzlich ein wenig eingeschüchtert.
»Was? Der Auszug?«
»Nein, bei Arne unterzukommen. Außerdem ist Thea doch zurzeit gar nicht da.«
»Darf ich fragen, was denn eigentlich das Problem mit Ihnen zwei ist?«
Die Praktikantin Maja oder Miriam steckt den Kopf durch die Tür und fragt, ob irgendwer Tee will. Ich sehe fragend zu Erich, der auf die Uhr sieht und beschließt: »Na, für ein Tässchen hätte ich wohl noch Zeit. Was ist mit Ihnen?«
»Zeit und Tee gern!«, sage ich zu Maja oder Miriam und Erich und hole meine Zigaretten raus. »Hier drinnen können wir leider nicht rauchen, aber wenn ich mit unter Ihren Schirm darf, könnten wir uns kurz vor die Tür in den Regen stellen und eine rauchen. Wie in den guten alten Zeiten auf der Hochzeit, was meinen Sie?«
Vor der Tür im Regen zu rauchen erinnert tatsächlich ein bisschen an die Feier vor einigen Wochen. Und somit auch ein wenig an die damit verbundenen Gefühle.
»Vielleicht ist Kommunikation unser größtes Problem«, sage ich, denn ich schulde Erich noch eine Antwort, auch wenn er sie nicht einfordern würde.
»Sie reden nicht miteinander?«
»Doch. Wir reden viel und gut. Wir passen wie Arsch auf Eimer, haben irrsinnig viele gemeinsame Interessen, kennen uns in- und auswendig, können sogar manchmal wie im Film die Sätze des anderen beenden …«
»Eine furchtbare Eigenschaft, wenn Sie mich fragen«, unterbricht mich Erich.
Ich sehe ihn fragend an.
»Nun, was ist so schön daran, den Satz des anderen zu beenden? Weshalb darf nicht
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