Wachstumsschmerz
zu groß!«
Rieke stöhnt und lässt sich mit der Teetasse auf ihr winziges Sofa fallen, wobei ihr ein Schluck heißer Tee auf den Schoß schwappt. »Ach, Scheiße!«
»Siehste, jetzt bist du auch noch verletzt. Wir sollten heute wirklich nicht mehr laufen. Vielleicht reicht es vorerst, wenn du mir nur
sagst
, wie richtiges Laufen geht?«
»Soll ich es dir aufmalen, Luise?«
»Nein. Wobei, geht das? Du kannst mir zumindest mal erklären, wie man Laufen lernt. Ich dachte, man bewegt einfach nur ein Bein vor das andere, und zack läuft man!«
»Willst du das wirklich wissen?«, fragt Rieke skeptisch. Ich will! So hätte ich zumindest schon mal eine Theoriestunde in Bewegung genommen.
»Nun, man setzt sich kleine Ziele. Das Ziel der ersten Woche wäre fünfzehn Minuten am Stück zu laufen.«
»Wow. Das geht?«
»Ja. Wenn man jeden Tag nur ein bisschen läuft. Am ersten Tag läufst du eine Minute, dann gehst du eine Minute, dann läufst du wieder eine Minute, dann gehst du wieder eine Minute. Danach zwei Minuten laufen, gehen, laufen, gehen. Am nächsten Tag steigert man die Minuten. Am übernächsten auch. Du lernst quasi in winzigen Intervallen Laufen. Am vierten Tag läufst du 15 Minuten langsam am Stück.«
»Und finde es nicht zum Kotzen?«
»Nee.«
»Wow. Das sollten wir echt ganz bald mal machen.«
»Wollen wir gar nicht über dich und Flo sprechen?«, fragt Rieke leise und ohne mich anzusehen.
Wollen wir? Ich weiß nicht. Seitdem Flo vor ein paar Tagen zu Arne gezogen ist, ist es angenehm leer in mir.
»Na ja, ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. Ich fühle zurzeit noch nicht besonders viel. Höchstens eine leise Erleichterung.«
»Fehlt er dir?«
»Ich befürchte, nein. Aber wie auch? Ist doch erst eine knappe Woche her.« Laut ausgesprochen, klingt das furchtbar. Eine Woche ist genug, um jemanden zu vermissen. Aber ich kann mich erst jetzt ganz langsam mit der Problematik auseinandersetzen. Die Zeit bis hierher brauchte ich tatsächlich, um mich auszuruhen. Und ich habe jeden Tag in der vergangenen Woche mir selbst für die angepeilten vier statt zwei Wochen Pause gedankt. Ich habe ausreichend Zeit, um eine Entscheidung zu treffen, die nicht auf einer Panikreaktion beruht, sondern auf erwachsenen und durchdachten Argumenten. Die sicherlich bald erwachsen durchdacht um die Ecke kommen werden. Noch jedoch fühle ich mich wie die auf dem Tisch tanzende Maus.
»Welche Schuhgröße hast du?«, fragt Rieke.
» 45 . Warum?«, antworte ich vorsichtig. Ich hätte wissen müssen, dass sie noch ein zweites Paar Laufschuhe besitzt.
W ährend sich draußen das Wetter überraschend schnell für einen matschigen und zugigen Frühwinter und gegen einen romantisch-goldenen Herbst entschieden hat, zieht in mir ein merkwürdiges zartes Frühlingsgefühl auf. Eine fast irritierende Leichtigkeit strafft meine Körperhaltung und verweist überdeutlich auf die von meinen Schultern genommene Last. Mein neuer Freiraum tut genau das, was sein Job ist: Er gibt mir Bewegungsfreiheit. Meine Haut hält die verzogene Klappe, und meine Lungen weiten sich, und ich kann plötzlich besser sehen. In alle Richtungen.
In diesem Moment sehe ich zur Tür unseres Ateliers, denn durch diese tritt, wie sollte es anders sein, ein gebückter älterer Herr. Humpelkundschaft nennen die Mädels hier meine alten Männer, wenn sie ohne Termin vorbeikommen.
Laufkundschaft kann ich heute eigentlich nicht besonders gut gebrauchen, ich bin ein bisschen spät dran mit einem eher komplizierten Businesskostüm für die eher komplizierte Mutter einer Bekannten und möchte eigentlich noch an einem Kleid für Pauli weiternähen, die in ein paar Wochen Geburtstag hat. Meine Arbeit erfüllt mich dieser Tage mit überraschender Zufriedenheit, weil es in den kalten Jahreszeiten wirklich sehr gemütlich in unserem Laden ist. Wir spielen bereits ab Ende Oktober abwechselnd Weihnachtslieder und diverse Best-of-Platten von Burt Bacharach, und irgendwer kocht immer grade Tee, so dass wir alle dauernd mehr als nötig trinken und permanent aufs Klo müssen, was manchmal sogar kleine Schlangen vor der Toilette verursacht und so eine lustige Ausgeh-Club-Atmosphäre zaubert.
Der Mann, der hereingekommen ist, schüttelt ungelenk seinen nassen Schirm zur Straße hinaus aus, was nicht ganz gelingt, weil die schwere Tür seine Arme und den Schirm in der Außenwelt ein- bzw auszuklemmen droht. Ich springe auf und halte in letzter Minute die Tür
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