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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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das Haus modrig feucht zu atmen. Erst vorhin hatte Wireman einen angreifenden Alligator erlegt. Das konnte ich inzwischen kaum glauben, obwohl mir von den Schüssen noch immer die Ohren summten.
    Dann sagteWireman: »Ich möchte hören, wie du’s machst. Lass sie ›Buenos días, amigos, mi nombre es Noveen‹ und › La mesa ist leck‹ sagen.«
    Jack lachte. »Ja, klar.«
    »Nein, das ist mein Ernst.«
    »Das kann ich nicht.Wenn man längere Zeit keine Übung hat, verlernt man es.«
    Aus eigenen Recherchen wusste ich, dass er grundsätzlich recht hatte. Was erlernte Fertigkeiten betrifft, steht die Erinnerung an einem Scheideweg. Der eine Weg führt zu solchen, die so einfach sind wie Radfahren - Dinge, die man nur selten wieder verlernt. Aber die kreativen, sich ständig verändernden Fertigkeiten des Vorderhirns müssen fast täglich geübt werden und werden leicht beschädigt oder zerstört. Jack behauptete, dass dies auch aufs Bauchreden zutraf. Und obwohl ich keinen Grund hatte, das zu bezweifeln - schließlich musste man dafür eine neue Persönlichkeit erschaffen, nicht nur seine Stimme verleihen -, ermunterte ich ihn: »Versuch’s wenigstens.«
    »Was?« Er sah mich an. Lächelnd. Verwundert.
    »Los, versuch’s einfach.«
    »Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht...«
    »Versuch’s trotzdem.«
    »Edgar, ich habe keine Ahnung, wie sie reden würde, selbst wenn ich meine Stimme noch projizieren könnte .«
    »Ja, aber du hast sie auf deinem Knie, und wir sind hier unter uns, also leg los.«
    »Na ja, Scheiße.« Er blies sich die Haare aus der Stirn. »Was soll sie denn sagen?«
    Wireman sprach jetzt ganz leise: »Warum warten wir nicht einfach ab, was rauskommt?«
     
     
     
     
     
     
    V Jack saß noch einen Augenblick länger mit Noveen auf seinem Knie da: ihre Köpfe in der Sonne, während sie aufgewirbelter Staub von der Treppe und dem uralten Läufer im Flur umschwebte. Dann veränderte er seinen Griff, sodass seine Finger auf dem nur angedeuteten Nacken der Puppe und ihren Stoffschultern lagen. Ihr Kopf kam hoch.
    »Hallo, Jungs«, sagte Jack, aber weil er sich bemühte, die Lippen nicht zu bewegen, kam es als hallunks heraus.
    Er schüttelte den Kopf und brachte damit den aufgewirbelten Staub in Bewegung. »Wartet einen Moment«, sagte er. »Das war beschissen.«
    »Du hast jede Menge Zeit«, erklärte ich ihm. Ich glaube, meine Stimme klang ruhig, aber mein Herz hämmerte stärker denn je. Zu meinen jetzigen Empfindungen gehörte auch Angst um Jack. Wenn dieser Versuch klappte, konnte er gefährlich für ihn sein.
    Er reckte das Kinn vor und massierte sich den Adamsapfel mit seiner freien Hand. Was ihn wie einen Tenor wirken ließ, der sich zum Singen bereit macht. Oder wie einen Vogel, dachte ich. Vielleicht ein Hummingbird, der Gospels sang. Dann sagte er: »Hallo, Jungs.« Das war besser, aber …
    »Nein«, sagte er. »Das war wieder Scheiße. Klingt wie diese alte blonde Tussi, Mae West. Wartet.«
    Er massierte sich nochmals die Kehle. Dabei sah er in die von oben einfallenden Lichtkaskaden auf und merkte vermutlich gar nicht, dass auch seine andere Hand - die auf der Puppe - sich bewegte. Noveen sah erst mich, dann Wireman, dann wieder mich an. Schwarze Knopfaugen. Mit Bändern durchflochtene schwarze Haare, die ein schokoladenbraunes Gesicht umgaben. Ein rotes O als Mund. Ein Aua, du böser Mann -Mund, wenn ich je einen gesehen hatte.
    Wiremans Hand umklammerte meine. Sie war kalt.
    »Hallo, Jungs«, sagte Noveen, und obwohl Jacks Adamsapfel auf und ab hüpfte, bewegten sich seine Lippen diesmal so gut wie überhaupt nicht.
    »He! Wie war das?«
    »Gut«, sagte Wireman so ruhig, wie ich mich nicht fühlte. »Lass sie noch was anderes sagen.«
    »Dafür werd ich extra bezahlt, stimmt’s, Boss?«
    »Klar«, sagte ich. »Du kriegst die Überstunden anger…«
    »Willste denn gar nich zeichnen?«, fragte Noveen und sah mich mit diesen runden schwarzen Augen an. Sie waren wirklich Knöpfe, da war ich mir ziemlich sicher.
    »Ich weiß nicht, was«, antwortete ich. »Noveen.«
    »Ich sag dir, was du zeichn kannst. Wo isn dein Block?« Jack sah jetzt zur Seite, in die Schatten, die zu dem verfallenen Salon führten, gedankenverloren, den Blick in ungewisse Fernen gerichtet. Er schien weder bei Bewusstsein noch bewusstlos zu sein, sondern sich in irgendeinem Zwischenstadium zu befinden.
    Wireman ließ meine Hand los und bückte sich nach der Provianttasche, in der ich meine beiden

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