Wahn - Duma Key
langen Arm auszustrecken und Verbindung mit ihr aufzunehmen. Die erstaunlichen Zeichnungen, die dann folgten, waren das Lockmittel, das Zuckerbrot, das am Ende der Peitsche baumelte. Es hatte lächelnde Pferde und Scharen regenbogenfarbener Frösche gegeben. Aber als Perse erst einmal draußen war - was hatte Noveen gesagt? -, war ziemlich bald Schluss mit lustig. Libbit Eastlakes Talent hatte sich in ihrer Hand in ein Messer verwandelt. Nur war das eigentlich nicht mehr ihre Hand. Ihr Vater war ahnungslos. Adie war fort. Maria und Hannah waren im Internat, in der Braden School. Die Zwillinge waren zu klein, um etwas zu verstehen. Aber Nan Melda begann einen bestimmten Verdacht zu hegen, und …
Ich blätterte zurück und betrachtete das kleine Mädchen mit dem Zeigefinger auf den Lippen.
Sie horcht, also pscht. Wenn man redet, kann sie einen hören, also pscht. Schlimme Dinge können passieren, noch schlimmere stehen bevor. Draußen im Golf lauern schreckliche Wesen darauf, dich zu ertränken und auf ein Schiff zu bringen, auf dem das Dasein kein richtiges Leben ist. Und wenn ich versuche, es zu erzählen? Dann können die schlimmen Dinge uns allen zustoßen - und alle gleichzeitig.
Wireman stand völlig still neben mir. Nur seine Augen bewegten sich, sahen manchmal Noveen, manchmal den bleichen Arm an, der ab und zu auf der rechten Seite meines Körpers sichtbar wurde und wieder verschwand.
»Aber es hat einen sicheren Ort gegeben, nicht wahr?«, fragte ich. »Einen Ort, an dem sie sprechen konnte. Wo?«
»Das weiß du«, sagte Noveen.
»Nein, ich...«
»Doch, doch das weiß du. Todsicha. Du hast ihn bloß vergessn. Zeichne ihn, dann siehst du ihn.«
Sie hatte recht. Zeichnend hatte ich mich neu erfunden. In dieser Beziehung war Libbit
(wo unsre schwester)
mit mir verwandt. Wir hatten uns beide zeichnend daran erinnert, wie man sich erinnerte.
Ich schlug ein neues Blatt auf. »Muss ich einen ihrer Stifte nehmen?«, fragte ich.
»Jetzt nich mehr. Du kanns jeden nehm.«
Also kramte ich in der Gürteltasche, fand mein Indigo und begann zu zeichnen. Ich skizzierte, ohne zu zögern, den Swimmingpool der Eastlakes - das war nicht anders, als würde man darauf verzichten, zu denken, und das Muskelgedächtnis eine Telefonnummer wählen lassen. Ich zeichnete ihn, wie er ausgesehen hatte, als er hell und neu und mit sauberem Wasser gefüllt gewesen war. Der Pool, an dem aus irgendeinem Grund Perses Macht schwand und ihr Gehör versagte.
Ich zeichnete Nan Melda, knietief im Wasser, und Libbit bis zur Taille darin, mit Noveen unter einen Arm geklemmt und ihre Kittelschürze um sie herum auf dem Wasser schwimmend. Aus meinen Strichen flossen Wörter.
Wo is deine neue Puppe jetzt? Die Puzellanpuppe?
In meinem Schatzkasten. Meiner Herzbox.
Sie war also darin gewesen, zumindest für einige Zeit.
Und wie heißt se?
Ihr Name ist Perse.
Percy is’n Name für Jungs .
Und Libbit fest und sicher: Ich kanns nich ändern. Ihr Name ist Perse.
Na schön. Und du sagst, sie kann uns hier nich hörn.
Ich glaube nicht...
Das ist gut. Du sagst, du kannst Dinge erschein lassn. Aber hör mir zu, Kind...
IX »O mein Gott!«, sagte ich. »Das war nicht Elizabeth’ Idee. Das war niemals Elizabeth’ Idee. Das hätten wir wissen müssen.«
Ich sah von meiner Zeichnung auf, auf der Nan Melda und Libbit im Pool standen. Spürte wie von weit weg, dass ich heißhungrig war.
»Wovon redest du, Edgar?«, fragte Wireman.
»Perse zu beseitigen war Nan Meldas Idee.« Ich wandte mich an Noveen, die weiter auf Jacks Knie saß. »Das stimmt doch, nicht wahr?«
Noveen sagte nichts, deshalb fuhr ich mit meiner rechten Hand über die beiden Gestalten auf meiner Zeichnung mit dem Swimmingpool. Sekundenlang sah ich diese Hand - mit langen Fingernägeln und allem.
»Nanny hats nich bessa gewusst«, sagte Noveen im nächsten Augenblick von Jacks Knie aus. »Und Libbit hat Nanny imma vatraut.«
»Natürlich hat sie das«, sagte Wireman. »Melda war praktisch die Mutter der Kleinen.«
Ich hatte mir vorgestellt, dass das Zeichnen und Ausradieren in Elizabeth’ Zimmer stattgefunden hatte, aber jetzt wusste ich es besser. Es hatte am Pool stattgefunden. Vielleicht sogar im Pool. Weil der Pool aus irgendeinem Grund sicher gewesen war. Zumindest hatte die kleine Libbit das geglaubt.
Noveen sagte: »Davon is Perse nich verschwunden, aber sie hats natürlich gemerkt. Ich glaub, die Hexe hat echt Muffensausen gehabt.«
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