Wahn - Duma Key
Zeichnungen gesehen hatte. Ursprünglich hatte ich geglaubt, sie wäre Nan Melda. Das stimmte nicht, aber …
»Nan Melda hat sie ihr geschenkt«, sagte ich.
»Klar«, stimmte Wireman zu. »Und sie muss ihre Lieblingspuppe gewesen sein, denn sie hat sie als Einzige gezeichnet. Die Frage ist nur: Warum hat sie sie zurückgelassen, als die Familie aus Heron’s Roost fortgezogen ist? Warum hat sie sie weggesperrt?«
»Manchmal fallen Puppen in Ungnade«, sagte ich. Ich betrachtete ihren roten, lächelnden Mund. Nach all diesen Jahren noch immer rot. Rot wie der Ort, an dem Erinnerungen sich verkrochen, wenn man verletzt war und nicht klar denken konnte. »Manchmal machen Puppen einem auch Angst.«
»Ihre Zeichnungen haben zu dir gesprochen, Edgar«, sagte Wireman. Er schüttelte die Puppe leicht, dann gab er sie Jack zurück. »Was ist mit ihr?Wird uns die Puppe erzählen, was wir wissen wollen?«
»Noveen«, sagte ich. »Sie heißt Noveen. Und ich wünschte, ich könnte es bejahen, aber zu mir sprechen nur Elizabeth’ Zeichnungen und Aquarelle.«
»Woher weißt du das?
Eine gute Frage. Woher wusste ich das?
»Ich weiß es einfach. Ich wette, sie hätte zu dir sprechen können, Wireman. Bevor ich dich kuriert habe. Als du noch dein kleines Augenzwinkern hattest.«
»Jetzt ist es zu spät«, sagte Wireman. Er kramte in unserer Vorratstüte herum, fand die Gurkenstreifen und aß ein paar davon. »Was machen wir jetzt? Zurückfahren? Irgendwas sagt mir, ’chacho , dass wir nie mehr den Mumm aufbringen werden, noch mal herzukommen, wenn wir jetzt zurückfahren.«
Wahrscheinlich hatte er recht. Und inzwischen verstrich überall um uns herum der Nachmittag.
Jack saß zwei, drei Stufen über dem Ha-ha auf der Treppe. Er hielt die Puppe auf seinem Knie. Sonnenschein fiel durch die zerstörten oberen Räume des Hauses und übergoss die beiden mit Licht. IhrAnblick war seltsam beziehungsreich, er hätte ein großartiges Gemälde ergeben: Junger Mann mit Puppe. Seine Art, Noveen zu halten, erinnerte mich an etwas, aber ich kam nicht ganz darauf. Noveens pechschwarze Knopfaugen schienen mich fast selbstgefällig anzublicken. Ich hab schon eine Menge gesehen, du böser Mann. Ich hab alles gesehen. Ich weiß alles. Nur schade, dass ich kein Bild bin, das du mit deiner Phantomhand berühren kannst, stimmt’s?
Ja, das stimmte.
»Es gab eine Zeit, da hätte ich sie reden lassen können«, sagte Jack.
Wireman blickte verständnislos drein, aber ich spürte das kleine Klick! , das man wahrnimmt, wenn eine Verbindung, die man herzustellen versucht hat, endlich zustande kommt. Jetzt wusste ich, weshalb mir seine Art, die Puppe zu halten, so bekannt vorkam.
»Hast dich mal als Bauchredner versucht, was?« Das klang hoffentlich beiläufig, aber mein Herz begann wieder gegen meine Rippen zu hämmern. Ich glaubte zu wissen, dass hier an der Südspitze von Duma Key viele Dinge möglich waren. Sogar am helllichten Tag.
»Ja«, sagte Jack mit einem Lächeln, das halb verlegen, halb nostalgisch war. »Ich hab mir ein Buch darüber gekauft, als ich erst acht war, und bin vor allem dabeigeblieben, weil mein Dad fand, das wär verschleudertes Geld, weil ich sowieso immer alles aufgeben würde.« Er zuckte mit den Schultern, und Noveen auf seinem Knie machte eine ruckartige kleine Bewegung. Als würde auch sie versuchen, mit den Schultern zu zucken. »Ich hab es nie großartig gelernt, aber doch so gut, dass ich in der Schule den Talentwettbewerb meines Jahrgangs gewonnen habe. Mein Dad hat sich die Medaille in seinem Büro an die Wand gehängt. Das hat mir viel bedeutet.«
»Klar«, sagte Wireman. »Nichts geht über ein ›Gut gemacht, Junge‹ von einem zweifelnden Dad.«
Jack lächelte, und wie immer erhellte das Lächeln sein ganzes Gesicht. Er veränderte seine Haltung etwas, und Noveen veränderte ihre. »Das Beste daran? Ich war ein schüchterner Junge, und das Bauchreden hat mir ein bisschen aus meiner Ecke rausgeholfen. Es wurde leichter, mit Leuten zu reden - ich hab mir vorgestellt, ich wär Morton. Meine Puppe, wisst ihr. Morton war ein Klugscheißer, der allen alles gesagt hat.«
»Das tun sie immer«, sagte ich. »Ein ungeschriebenes Gesetz, denke ich.«
»Dann kam ich in die Junior High, und im Vergleich zu Skateboardfahren fand ich Bauchreden eher uncool. Also hab ich’s aufgegeben. Wo das Buch geblieben ist, weiß ich nicht. Nur noch, wie’s hieß: Verleihe deine Stimme. «
Wir schwiegen. Um uns herum schien
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