Wahn - Duma Key
Triebfeder der Kunst. Dieses kleine Mädchen, von dem ich Ihnen erzählt habe - sie hat ihren Hunger gefunden und benutzt.
Sie denkt: Jetzt nicht mehr ganzen Tag im Bett. Ich gehe Daddys Zimmer, Daddys Büro. Manchmal sage ich Büro, manchmal sage ich Gühlo. Es hat ein großes schönes Fenster. Sie setzen mich auf den Still. Ich kann rauf runter sehn. Vögel und hübsch. Zu hübsch für mich, also werd ich traurich. Manche Wolken haben Flügel. Manche haben blaue Augen. Bei jedem Sonnenuntergang weine ich von traurich. Tut angucken weh. Tut mir ganz tief drin weh. Ich kann nie sagen, was ich seh, und das macht mich traurich.
Sie denkt: TRAURIG, das Wort heißt TRAURIG.
Sie denkt: Wenn ich das Weh stoppen könnte. Wenn ich’s wie Pipi rausdrücken könnte. Ich weine und bitte bitte bitte zu sagen, was ich meine. Nan kann mir nicht helfen. Sage ich »Farbe!«, berührt sie ihr Gesicht und sagt: »War’s schon immer, werd’s immer sein.« Große Mädchen helfen auch nicht. Ich bin so wütend auf sie, warum hört ihr nicht zu, IHR GROSSEN FIESEN. Dann kommen eines Tages die Zwillinge, Tessie und Lo-Lo. Sie reden ganz besonders miteinander, hören mir ganz besonders zu. Anfangs verstehen sie mich nicht, aber dann. Tessie bringt mir Papier, Lo-Lo bringt mir Bleistift, und ich mache »Beistiff!« mit dem Mund, und das lässt sie lachen und in die Hände klatschen.
Sie denkt: ICH KANN FAST DEN NAMEN VON BLEISTIFT SAGEN!
Sie denkt: Ich kann die Welt auf Papier machen. Ich kann zeichnen, was die Worte heißen. Ich sehe Baum, ich mache Baum. Ich sehe Vogel, ich mache Vogel. Das ist gut wie Wasser aus einem Glas.
Sie ist ein kleines Mädchen mit einem Kopfverband, das einen kleinen rosa Morgenrock trägt und im Arbeitszimmer ihres Vaters am Fenster sitzt. Ihre Puppe Noveen liegt auf dem Fußboden neben ihr. Sie hat ein Schreibbrett, und auf dem Schreibbrett liegt ein Stück Papier. Sie hat es gerade geschafft, etwas Krallenartiges zu zeichnen, das tatsächlich Ähnlichkeit mit der abgestorbenen Weihrauchkiefer vor dem Fenster hat.
Sie denkt: Ich möchte bitte mehr Papier.
Sie denkt: Ich bin ELIZABETH.
Das muss so gewesen sein, wie wenn man die Sprache zurückkriegt, nachdem man geglaubt hat, für immer stumm zu sein. Und noch mehr. Besser. Es war ein Geschenk von ihr selbst, von ELIZABETH. Schon bei diesen unglaublich tapferen ersten Zeichnungen musste sie begriffen haben, was mit ihr geschah. Und mehr gewollt haben.
Ihr Talent war hungrig. Die besten Talente - und die schlimmsten - sind das immer.
4
Freunde mit Zuwendungen
I Am Neujahrsnachmittag wachte ich nach einem kurzen, aber erfrischenden Nickerchen mit dem Gedanken an eine bestimmte Muschelart auf - die orangerote Art mit weißen Flecken. Ich wusste nicht, ob ich davon geträumt hatte oder nicht, aber ich wollte eine haben. Ich war bereit, mit Malfarben zu experimentieren, und dachte, eine dieser orangeroten Muscheln würde sich sehr gut dazu eignen, mitten in einen Sonnenuntergang im Golf von Mexiko platziert zu werden.
Ich begann den Strand in Richtung Süden abzusuchen, nur von meinem Schatten und zwei oder drei Dutzend der winzigen Vögel begleitet - Ilse nannte sie Piepser -, die an der Wassergrenze endlos auf Futtersuche waren. Weiter draußen segelten Pelikane, legten dann plötzlich die Flügel an und fielen herab wie Steine. An diesem Nachmittag dachte ich nicht an Gehübungen, überwachte nicht die Schmerzen in meiner Hüfte und zählte auch keine Schritte. Ich dachte eigentlich an nichts Bestimmtes; mein Verstand segelte wie die Pelikane, bevor sie im caldo largo unter ihnen ihr Abendessen erspähten. Daher war ich, als ich endlich eine Muschel der gesuchten Art entdeckte und mich mit ihr in der Hand umdrehte, verblüfft, wie klein das Big Pink geworden war.
Ich stand da, warf die orangerote Muschel ein paarmal hoch, fing sie wieder auf und spürte plötzlich das Glassplitterpochen in meiner Hüfte. Es begann dort und pulsierte mein ganzes Bein hinunter. Aber meine Fußabdrücke, die sich von hier in Richtung Haus erstreckten, waren nur wenig verwischt. Bei ihrem Anblick wurde mir klar, dass ich mich verhätschelt hatte - vielleicht nur ein bisschen, vielleicht auch sehr. Ich und mein dämliches kleines Zahlenspiel. Heute hatte ich vergessen, ungefähr alle fünf Minuten besorgt in mich hineinzuhorchen. Ich hatte einfach... einen Spaziergang gemacht. Wie jeder normale Mensch.
Ich hatte also die Wahl. Ich konnte mich auf dem Rückweg
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