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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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verhätscheln, ab und zu stehen bleiben, um eine von Kathi Greens Dehnübungen zu machen, die verdammt wehtaten und sonst nicht viel zu bewirken schienen, oder ich konnte einfach gehen. Wie jeder normale unverletzte Mensch.
    Ich entschied mich für Letzteres. Aber bevor ich mich in Bewegung setzte, sah ich mich noch einmal um und entdeckte weiter südlich einen gestreiften Liegestuhl. Neben ihm stand ein Tisch mit einem genauso gestreiften kleinen Schirm darüber. In dem Liegestuhl saß ein Mann. Was vom Big Pink aus nur ein Punkt am Horizont gewesen war, erwies sich jetzt als großer, schwerer Bursche in Jeans und einem weißen Hemd mit bis zu den Ellbogen aufgekrempelten Ärmeln. Sein Haar war lang und wehte in der Brise. Seine Gesichtszüge konnte ich nicht erkennen; dafür waren wir noch zu weit voneinander entfernt. Er merkte, dass ich zu ihm hinübersah, und winkte. Ich winkte ebenfalls, dann wandte ich mich ab und begann den mühsamen Fußmarsch entlang der eigenen Fährte. Das war meine erste Begegnung mit Wireman.
     
     
     
     
     
     
    II An diesem Abend war mein abschließender Gedanke beim Zubettgehen, dass ich vermutlich fast zu wund, um gehen zu können, durch den zweiten Tag des neuen Jahres humpeln würde, fast zu wund, um überhaupt zu gehen. Ich war entzückt, als sich zeigte, dass dies nicht der Fall war; ein heißes Bad schien die restliche Steifheit zu beseitigen.
    Deshalb brach ich an diesem Nachmittag erneut auf. Kein bestimmtes Ziel; kein Neujahrsvorsatz; kein Zahlenspiel. Nur jemand, der eine Strandwanderung machte und dabei mehrmals dicht genug an die harmlose Brandung herankam, um die Piepser in einer opaken Wolke auffliegen zu lassen. Manchmal hob ich eine Muschel auf und steckte sie ein (in einer Woche würde ich eine Plastiktüte mitnehmen, um meine Schätze darin zu verstauen). Sobald ich nahe genug heran war, um den stämmigen Kerl genauer sehen zu können - heute trug er zu einer Khakihose ein blaues Hemd und war mit einiger Sicherheit barfuß -, kehrte ich wieder um und machte mich auf den Rückweg zum Big Pink. Aber nicht ohne ein Winken, das er erwiderte.
    Damit begannen meine Großen Strandwanderungen. Sie wurden jeden Nachmittag etwas länger, sodass ich den schweren Mann in seinem gestreiften Liegestuhl etwas deutlicher sah. Ich merkte bald, dass auch er eine bestimmte Routine einhielt: Morgens kam er mit der alten Dame heraus, die er in ihrem Rollstuhl bis ans Ende des auf dem Sand liegenden Holzstegs schob, den ich vom Big Pink aus nicht hatte sehen können. Nachmittags war er allein am Meer. Sein Hemd zog er niemals aus, aber Gesicht und Arme waren dunkelbraun wie alte Mahagonimöbel. Neben ihm auf dem Tischchen standen ein hohes Glas und ein Krug, der Eiswasser, Limonade oder Gin und Tonic enthalten konnte. Er winkte jedes Mal; ich winkte immer zurück.
    An einem Tag im Januar, als die Entfernung zwischen uns sich auf kaum mehr als eine Achtelmeile verringert hatte, erschien ein zweiter gestreifter Liegestuhl im Sand. Und auf dem Tisch stand jetzt ein zweites Glas: leer, aber groß und schrecklich einladend. Als ich winkte, winkte er erst zurück und deutete dann auf den freien Liegestuhl.
    »Danke, aber noch nicht!«, rief ich.
    »Teufel, kommen Sie einfach!«, rief er zurück. »Ich fahre Sie mit dem Golfwagen heim!«
    Darüber musste ich lächeln. Ilse hatte für einen Golfwagen plädiert, mit dem ich den Strand entlangflitzen und die Piepser aufschrecken konnte. »Nicht im Schlachtplan vorgesehen«, rief ich, »aber irgendwann bin ich da! Was immer in diesem Krug ist... stellen Sie’s für mich auf Eis!«
    »Sie wissen es am besten, muchacho! « Er deutete einen militärischen Gruß an. »Bis dahin: Lebe den Tag, und lass den Tag dich leben!«
    Ich erinnere mich an alles Mögliche, das Wireman gesagt hat, aber diesen Spruch bringe ich am nachdrücklichsten mit ihm in Verbindung, vielleicht auch weil ich ihn von ihm hörte, noch bevor ich seinen Namen kannte oder ihm auch nur die Hand geschüttelt hatte: Lebe den Tag, und lass den Tag dich leben.
     
     
     
     
     
     
    III Spaziergänge waren nicht das Einzige, was Freemantle in diesem Winter beschäftigte; Freemantle begann auch wieder zu leben. Und das fühlte sich verdammt großartig an. Während in einer stürmischen Nacht die Wogen brandeten und die Muscheln sich stritten, statt sich nur zu unterhalten, fasste ich einen Entschluss: Sobald dieses neue Lebensgefühl sich gefestigt hatte, würde ich Reba, meine

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