Wahn - Duma Key
»Um diese Jahreszeit dauert es mindestens zwei Stunden, sich in einer Minipraxis am Straßenrand wegen einer lausigen Halsentzündung untersuchen zu lassen. Rechnet man eine Stunde Fahrzeit dazu - jetzt mehr, weil die Schneevogelsaison da ist und keiner von ihnen weiß, wohin er muss -, reden wir von drei Stunden bei Tageslicht, auf die ich einfach nicht verzichten kann. Nicht wenn ich mich mit dem Klimatechniker in Nummer 17... dem Stromableser in Nummer 27 … dem Mann vom Kabelfernsehen - falls er jemals kommt - dort drüben treffen soll.« Er zeigte auf das Nachbarhaus mit der Nummer 39. »Junge Leute aus Toledo haben es bis Mitte März gemietet und zahlen siebenhundert Dollar extra für etwas, das Wi-Fi heißt und von dem ich nicht mal weiß, was es ist.«
»Wave of the future, das ist es. Alles klar. Jack hat sich drum gekümmert. Wave of the father-raping, mother-stabbing future.«
»Schönes Zitat. Arlo Guthrie, 1967.«
»Der Film ist von 1969, soviel ich weiß«, sagte ich.
»Wann auch immer, viva die Welle der Mütter vergewaltigenden, Froschdaddy erstechenden Zukunft! Ändert nichts an der Tatsache, dass ich mehr zu tun habe als ein Einbeiniger bei einem Arschtritt-Wettbewerb. Und überleg doch mal, Edgar... Du weißt, dass es nicht beim Abklopfen und der Untersuchung mit der alten Doktor-Stablampe bleiben wird. Das ist immer erst der Anfang.«
»Aber wenn du es brauchst...«
»Vorläufig fehlt mir nicht viel.«
»Klar. Deshalb bin ich auch derjenige, der ihr jeden Nachmittag Gedichte vorliest.«
»Ein bisschen Lesekultur kann dir nicht schaden, du gottverdammter Kannibale!«
»Das weiß ich auch, und du weißt , dass ich von etwas anderem rede.« Ich überlegte mir - und nicht zum ersten Mal -, dass Wireman einer der ganz wenigen Männer war, die ich je kennengelernt hatte, die ständig Nein zu mir sagen konnten, ohne mich zu verärgern. Als Neinsager war er ein Genie. Manchmal dachte ich, das liege an ihm; manchmal dachte ich, der Unfall habe mich innerlich verändert; manchmal dachte ich, dass es an beidem lag.
»Ich kann lesen, weißt du«, sagte Wireman. »In kleinen Dosen. Genug, um durchzukommen. Etiketten von Medizinfläschchen, Telefonnummern, solches Zeug. Und ich werde mich untersuchen lassen, also kannst du dir deinen Typ-A-Drang, die ganze Welt verbessern zu wollen, getrost abschminken. Au Mann, damit musst du deine Frau wahnsinnig gemacht haben.« Er musterte mich von der Seite her und fragte: »Oje, ist Wireman da auf ein Hühnerauge getreten?«
»Wollen wir nicht mal von dieser kleinen runden Narbe auf deiner rechten Kopfseite reden? ¿Muchacho? «
Er grinste. » Touché, touché. Verzeihung. All apologies. «
»Kurt Cobain«, sagte ich. »1993. Um den Dreh.«
Er blinzelte. »Wirklich? Ich hätte 1995 gesagt, aber die Rockmusik hat mich größtenteils hinter sich gelassen. Wireman wird alt, traurig, aber wahr. Und was diese Sache mit dem Anfall betrifft... sorry, Edgar, das kann ich einfach nicht glauben.«
Aber er glaubte es. Das sah ich in seinem Blick. Bevor ich noch etwas sagen konnte, sprang er von dem Sägebock auf und deutete nach Norden. »Sieh nur! Ein weißer Lieferwagen! Ich glaube, die Kabel-TV-Kompanie rückt an!«
II Ich glaubte Wireman, als er mir versicherte, keine Ahnung zu haben, wovon Elizabeth Eastlake da redete, nachdem ich ihm die Aufzeichnung meines Anrufbeantworters vorgespielt hatte. Er vermutete weiter, ihre Sorge um meine Töchter hänge mit ihren längst gestorbenen Schwestern zusammen. Zudem bekannte er, dass es ihm völlig rätselhaft sei, weshalb sie nicht wollte, dass ich größere Mengen meiner Bilder auf der Insel lagerte.Was das anginge, habe er keinen blassen Schimmer, sagte er überzeugend.
Joe und Rita Bissiger Hund zogen ein; das unaufhörliche Kläffen ihrer Menagerie begann. Auch die Baumgartens zogen ein, und ich kam oft an ihren Jungen vorbei, wenn sie am Strand Frisbee spielten. Sie waren genauso, wie Wireman sie beschrieben hatte: sportlich, gut aussehend und höflich, einer vielleicht elf, der andere vielleicht dreizehn, beide mit athletischem Körperbau, der die Cheerleader der Junior High schon bald zum Tuscheln veranlassen würde, wenn’s nicht längst so weit war. Sie waren immer bereit, mir ihr Frisbee für ein paar Würfe zu überlassen, wenn ich vorbeihinkte, und der Ältere - Jeff - rief meistens etwas Aufmunterndes wie: »Jo, Mr. Freemantle, klasse Wurf!«
Ein Paar mit einem weißen Sportwagen
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