Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
finden, die keine sichtbaren Spuren hinterläßt, genau wie er es bei ihr getan hätte.
Und wenn Sophie zu mir käme und mir davon erzählen würde, dann würde ich ihr glauben.
In dieser Hinsicht unterscheide ich mich von meiner Mutter. Und dafür bin ich unendlich dankbar.
Als ich sie wieder ansehe, empfinde ich kein Bedauern, keine Trauer, nicht einmal Schmerz. Ich fühle mich einfach nur taub. »Ich würde dir gern sagen können, daß ich weiß, du hast dein Bestes getan«, sage ich sanft, »aber das kann ich nicht.«
Als Kind war das, was mir fehlte, so viel mehr als das, was ich hatte. Meine Mutter, mythisch, imaginär, war alles auf einmal: Gottheit, Superheldin und Trost. Wenn ich sie nur hätte, dann wäre sie ganz bestimmt die Antwort auf alle meine Probleme. Wenn ich sie nur hätte, dann könnte sie alles regeln, was in meinem Leben je schiefgelaufen war. Ich brauchte achtundzwanzig Jahre, um mir einzugestehen, daß ich froh bin, meine Mutter bis jetzt nicht gekannt zu haben. Nicht weil sie mein Leben ruiniert hätte, wie mein Vater befürchtete, sondern weil ich so nicht mit ansehen mußte, wie sie ihr eigenes zerstörte.
Der Kummer meiner Mutter ist so stark, daß der Boden unter ihren Füßen zerspringen muß. »Delia«, sagt sie, während ihre Augen sich mit Tränen füllen. »Ich gebe mir Mühe.«
»Ich auch.« Ich greife nach ihrer Hand: ein Kompromiß, ein Abschied. Vielleicht kann es besser nicht werden.
Eric und ich warten im Vorraum der Haftanstalt Madi-son Street, während die Papiere für meinen Vater fertig gemacht werden. Ich achte darauf, einen Zentimeter Platz zwischen uns zu halten, auch wenn wir von anderen Wartenden dicht zusammengeschoben werden. Der Abstand bewegt sich mit uns und sorgt dafür, daß meine Schulter nicht an seine stößt. Wenn das passiert, wäre ich nicht mehr fähig, die Fassung zu wahren.
Vor uns zieht eine Parade von Inhaftierten vorbei: Prostituierte, die versuchen, die Aufseher anzubag-gern; Gangmitglieder mit blutenden Wunden; Betrunkene, die in den Ecken schlafen und manchmal im Schlaf weinen. »Weißt du«, sagt er nach einigen Minuten, »vielleicht bleib ich noch ein Weilchen hier.«
»Im Gefängnis?«
»In Arizona. Es ist eigentlich gar nicht so schlecht hier. Und ich hab immerhin schon einen Richter, der mich mag.« Er zuckt die Achseln. »Chris Hamilton hat mir einen Job angeboten.«
»Wirklich?«
»Ja. Gleich nachdem er mich zur Schnecke gemacht hat, weil ich ihm verschwiegen hatte, daß ich Alkoholiker bin.«
Ich starre auf meine Hände. »Das ist nicht der Grund, warum ich es getan hab, weißt du.«
• Das ist genau der Grund, warum du es getan hast«, widerspricht er. »Und deshalb liebe ich dich.« Er greift in seine Tasche und zieht einen Zettel mit einer Adresse heraus. »Das ist der nächstgelegene Treffpunkt der Anonymen Alkoholiker. Ich gehe heute abend hin.«
Meine Augen werden feucht. »Ich liebe dich auch«, sage ich. »Aber ich kann deine Last nicht tragen.«
»Ich weiß, Dee.«
»Im Augenblick kann ich nicht sagen, was ich eigentlich will.«
»Auch das weiß ich«, sagt Eric.
Ich wische mir über die Augen. »Was soll ich denn Sophie sagen?«
»Daß ich gesagt habe, es wäre für ihre Mutter am besten so.« Er nimmt meine Hand und streichelt mit dem Daumen die Fingerknöchel. »Herrgott, wenn ich durch diesen verdammten Prozeß irgendwas gelernt habe, dann, daß ein Mensch einen nur verlassen kann, wenn man ihn gehen läßt. Und das tue ich nicht, Dee. Vielleicht sieht es heute so aus, oder morgen, oder sogar noch in einem Monat, aber eines Tages wirst du aufwachen und feststellen, daß du dich die ganze Zeit über, in der du fort warst, eigentlich immer nur wieder auf deinen Ausgangspunkt zubewegt hast. Und da werde ich sein und auf dich warten.« Er beugt sich vor und küßt mich einmal, federleicht, auf die Lippen. »Es ist nicht so, daß ich dich nicht gehen lasse«, raunt er. »Ich vertraue einfach nur darauf, daß du zurückkommst.«
Als er aufsteht, ist er so groß, daß er das Sonnenlicht verdeckt. Einen Moment lang sehe ich nur noch ihn, als er durch die Tür nach draußen geht.
Wir haben die Haftanstalt verlassen und sind auf dem Highway. Aber anstatt zurück zu Fitz und Sophie zu fahren, nehme ich die nächste Ausfahrt und halte in einer dicken Staubwolke am Straßenrand. Zum ersten Mal seit Beginn des Prozesses erlaube ich mir, meinen Vater anzusehen, richtig anzusehen.
Die Blutergüsse in seinem Gesicht
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