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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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gesehen hatte? Den See, dahinter Wald, den schneebedeckten Felskamm. Hieß es nicht, das Gehör sei das Letzte, das man verliere, wenn man sterbe? Hören die Toten das Rascheln der Leintücher, die man über ihre Gesichter zieht, hören sie, wie das Fenster des Sterbezimmers geöffnet wird, hören sie das Weinen der Zurückgebliebenen, das Knistern der Bibelseiten, die Schritte, die sich entfernen? Flüstern wirdarum, wenn wir an Sterbebetten sitzen, dachte der Mann, weil wir nicht wollen, dass uns die Toten verstehen, und weil wir ihnen wenigstens jetzt die Stille gönnen?
    Er kauerte so lange hinter der Frau und ihrem Hund, bis ihm beide Beine eingeschlafen waren. Er stand auf, japsend vor Schmerz, weil ihm das Blut in die Beine schoss, und hätte sich am liebsten in den Schnee gesetzt. Als er wieder ruhig stehen konnte, zog er das Handy aus seiner Daunenjacke und drückte die gespeicherte Nummer der Gendarmerie in Ebensee. Er räusperte sich und wartete darauf, dass sich sein Schwiegersohn meldete, da realisierte er, dass er der Frau die Hand jetzt doch auf die Schulter gelegt hatte. Er ließ die Hand liegen und machte die Augen zu.
    Das Mädchen lag vier, fünf Meter vor dem Ende des Durchgangs an der Wand, aus der, direkt über ihrem Kopf, ein Rohr mit verrostetem Flansch ragte. Im ersten Augenblick dachte die Frau, das Mädchen sei tot. Das Blut, das sich um seinen Kopf ausgebreitet hatte, sah aus wie eine Krone aus Flammen, sagte sie später aus, eine Krone, die dem Mädchen vom Kopf gerutscht ist. Es lag auf der Seite, die Beine an die Brust gezogen, die Arme als Schutz vor dem Gesicht. Die Frau blieb stehen, hielt den Atem an und machte die Augen zu. Ich hätte am liebsten eine Zigarette angezündet, würde sie ihrem Mann Vlado später gestehen, dem sie ihre Gefühle eigentlich schon lange nicht mehr offenbarte. Von einer der Laderampen war das Wispern von Reifen auf Beton zu hören, in der Morgendämmerunghatte es kurz geregnet. Die Frau öffnete die Augen, beugte sich über das Mädchen und bemerkte, dass es atmete und also noch am Leben war. Sie ist doch noch ein Kind, dachte sie, was werden ihre Eltern sagen? Hatte sie das Mädchen nicht schon einmal irgendwo gesehen? Gehörte es nicht zur Clique, die sich im türkischen Imbiss an der Buchserstraße traf, den sie ihrer Tochter Dragica verboten hatten, weil es hieß, dort werde Alkohol an Jugendliche verkauft? Wie schmal das Mädchen war. Sein Gesicht war voller Blut, das rechte Auge zugeschwollen, die Lippe aufgeplatzt. Dass ein Zahn vor dem zerschlagenen Mund auf dem Boden lag, sah die Frau erst, als sie sich abwenden wollte, um endlich Atem zu schöpfen. Ich habe, erzählte sie ihrem Mann abends, ich habe die ganze Zeit, in der ich das Mädchen betrachtete, die Luft angehalten, als schütze mich das. Schützen, aber vor was denn schützen, wollte er wissen? Da hatte sie endlich angefangen zu weinen.
    Im Durchgang aber blieb sie ruhig und gefasst, als stehe sie neben sich, oder nein, über sich, als gehe es jetzt in erster Linie darum, stark zu sein und das Kind vor weiterer Aufregung zu bewahren. Plötzlich sah sie die rosa Lidränder ihrer Kaninchen vor sich, wie lange sie nicht mehr an die Tiere ihrer Kindheit in Split gedacht hatte, nun erschienen sie vor ihr, als seien sie nicht bloß eine Erinnerung. Die Lider hatten selbst dann hellrosa geleuchtet, wenn die Kaninchen die Augen geschlossen hatten, als brenne ein Licht in den Köpfen mit den großen weichen Ohren, die sie so gern gestreichelt hatte.
    Der Durchgang, dies letzte Stück ihres Arbeitsweges, hatte ihr immer Angst gemacht, nun wusste sie also endlich weshalb.Das Echo ihrer Schritte war ihr unheimlich, als sei nicht sie selbst es, die es verursachte, sondern jemand anders, ein Geist, der sie begleitete. Oder folgte er ihr? Warum gab sich dieser Geist nur in diesem Durchgang zu erkennen? Woran wollte er sie erinnern, was wollte er ihr sagen? Und warum sagte er es ihr nicht einfach geradeheraus? Nicht einmal diese finsteren Gedanken sollte sie Vlado abends verschweigen, obschon sie natürlich ahnte, nein wusste, dass er sie nicht verstehen würde. Geist, was redest du, Frau, es gibt keine Geister!
    Warum die Frau erst ihren Mann anrief und danach den Notruf, sie hätte es nicht erklären können. Vlado hob nach dem siebten Klingeln ab, sie störte ihn, das verriet seine Stimme. Er saß mit dem ersten Bier nach seiner Nachtschicht bei Chocolat Frey am Küchentisch. Du musst, befahl er ihr,

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