Entscheidung auf Tortola
1. KAPITEL
“Was geht hier vor?” Eine wütende Stimme hallte durch die Nacht, und Lacey verkroch sich noch weiter hinter den Oleanderbüschen, um nicht gesehen zu werden. Als der Wagen in die Einfahrt gebogen war, hatte sie sich sofort versteckt. Jetzt wagte sie nicht mehr hervorzukommen, denn es wäre ihr peinlich gewesen, von ihrem Nachbarn in dessen Garten entdeckt zu werden. Was wollte er eigentlich hier? Lacey hatte angenommen, er sei im Ausland.
Zum Glück war in dieser Nacht kein Vollmond, und das Rauschen des Passatwindes in den Blättern der Oleander- und Hibiskusbüsche, die den gepflegten Rasen säumten, übertönte alle anderen Geräusche.
Wenn die Kinder sich ebenfalls still verhalten, findet er uns vielleicht nicht,
dachte Lacey und hoffte, dass der Mann die Suche aufgab und ins Haus ging.
“Wer ist da?”, erklang die Stimme jetzt ganz nah.
Lacey sah schwarze Schuhe und den Schatten eines Mannes. Sie duckte sich noch tiefer und presste den Rücken gegen die raue Steinwand, doch ein Rückzug erschien unmöglich. Bevor sie sich noch einen Ausweg überlegen konnte, packte jemand sie an der Schulter.
Lacey kam sich sehr dumm vor, als sie die Zweige zur Seite schob und auf den Rasen trat. Der Mann hielt sie noch immer fest, so dass sie seine kräftigen Finger durch den dünnen Stoff ihres T-Shirts spürte.
Obwohl sie mit ihren ein Meter fünfundsiebzig nicht gerade klein war, musste sie zu ihm hoch schauen. In der Dunkelheit waren seine Gesichtszüge nicht auszumachen, aber Lacey ahnte, dass es sich nur um Steve Carmichael handeln konnte. Sie hatte mehrmals eine genaue Beschreibung des Mannes von ihrer Schwägerin Suzanne erhalten, als diese sie dazu überredet hatte, ihren Urlaub auf Barbados zu verbringen.
“Und jetzt sagen Sie mir, wer Sie sind und warum Sie sich in meinem Garten verstecken.” Der Druck seiner Hand auf ihrer Schulter war so schmerzhaft, dass Lacey befürchtete, am nächsten Tag blaue Flecken zu haben. Der britische Akzent, den sie bei ihrer Ankunft auf Barbados so charmant gefunden hatte, klang bei Steve Carmichael förmlich und eisig.
“Tut mir leid, wir haben bloß gespielt”, entschuldigte sie sich und sah sich nach den Kindern um. Bei diesem Gegner brauchte sie Verbündete.
“Gespielt?” In seiner Stimme schwang noch ein drohender Unterton mit.
“Ja, Verstecken. Jimmy, David, kommt heraus. Ihr habt gewonnen.” Lacey war mit ihren sechsundzwanzig Jahren viel zu alt für ein solches Spiel mit den Nachbarskindern. Aber vorhin hatte sie Lust dazu bekommen, vielleicht auch aus beginnender Langeweile, da sie den ganzen Tag mit niemandem reden konnte.
Steves Aufmerksamkeit wurde von zwei kleinen Schatten auf dem Rasen abgelenkt. Die Jungen kamen herbeigelaufen und blickten grinsend zu dem wütenden Mann auf.
“Hallo, Mr. Carmichael”, grüßte Jimmy lässig.
“Das hätte ich mir denken können. Sag mal, Jimmy, habt ihr keinen eigenen Garten?”, fragte Steve, ohne den Griff um Laceys Schulter zu lockern.
“Doch, aber in Ihrem Garten kann man viel besser spielen”, erklärte Jimmy, und David nickte zustimmend.
Lacey bemühte sich, nicht gänzlich die Fassung zu verlieren. “Verzeihen Sie unser unbefugtes Eindringen”, begann sie förmlich. “Aber mein Garten ist sehr klein und bietet kaum Versteckmöglichkeiten. Bei Ihnen dagegen ist viel Platz, und es stehen hier so viele schöne Büsche und Bäume. Außerdem haben wir angenommen, dass Sie verreist sind.”
“Das war ich auch. Ich komme gerade aus Europa zurück. Aber das gibt Ihnen nicht das Recht, sich Zutritt zu meinem Anwesen zu verschaffen.” Er warf einen Blick auf die Jungen. “Diese beiden Lausebengel kenne ich, und wer sind Sie?”
“Ich heiße Lacey Stanford und wohne in Mrs. Tuttles Haus nebenan.” Lacey zeigte auf das kleine Haus auf der anderen Seite der Mauer, die die beiden Grundstücke voneinander trennte.
“Aha, sie hat also wieder mal vermietet.” Steve Carmichael wirkte alles andere als erfreut, und Lacey überlegte, ob er Mrs. Tuttles Feriengäste grundsätzlich ablehnte oder nur solche, die es wagten, seinen Garten zu betreten.
“Nein, ich gehöre sozusagen zur Familie und verbringe hier meinen Urlaub. Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe.” Lacey versuchte, sich aus Steves Griff zu befreien, doch er ließ ihre Schulter nicht los.
“In Zukunft bleiben Sie auf Ihrer Seite der Mauer”, sagte er streng.
Lacey unterdrückte das Bedürfnis zu salutieren und nickte nur.
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