Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Bad Ischl, wo sie einen Kurs belegte. Augen nach rechts, nicht auf die Tastatur, nach rechts – und los, Maschinen einschalten! Warum, fragte sie sich, kann ich mich nicht an den Tag erinnern, an dem ich beschlossen habe, von zu Hause wegzugehen und in der Schweiz Arbeit als Sekretärin zu finden? Gibt es ihn vielleicht gar nicht, den ganz bestimmtenMoment, in dem ich den Entschluss fasste? Ist es etwa einfach geschehen, so, wie es sich einfach ergibt, dass man eines Tages Mann und Sohn verlässt, ohne sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen? Sie sah den meterhohen Schnee ihrer Kindheit vor sich, der in der Dämmerung leuchtete, sah die Wege, die in Schlangenlinien durch ungemähte Wiesen führten, die Kellerstiege, auf der es nach Äpfeln roch und dem sauren Most, den ihr Stiefvater in großen grünen Glasflaschen anmachte.
Sie stand auf, öffnete die Tür, trat vorsichtig auf den Korridor hinaus und ging dann schnell an den Scheiben des Esssaales vorbei. Die anderen waren mit Essen beschäftigt und bemerkten sie nicht; nur Moser, der frühere Dorfpolizist, hob den Kopf und sah sie strafend an. Verändern kann man die Vergangenheit nicht, dachte Roberta, als sie aus dem Hauptgebäude auf den Plattenweg trat, der zu ihrem Wohntrakt hinüberführte, aber man kann sie überwinden.
2
Ayfer Boskül saß auf dem Bett ihres Zimmers und sah in den Hinterhof hinunter. Die streunenden Katzen hatten es schon wieder geschafft, den Blechbehälter mit den Küchenabfällen umzustürzen, und stritten sich um Fischköpfe und Hühnerknochen. Ihr Zimmer lag über der Küche des Hotels Eysan, das Burhan, dem älteren Bruder ihres Vaters gehörte; sie öffnete das Fenster nur nachts, wenn die Köche gegangenund der Dampfabzug ausgeschaltet worden war, sonst waren Lärm und Gestank nicht auszuhalten.
Abgesehen vom Bett hatte ihr der Onkel einen Tisch, einen Schrank und zwei Plastikstühle aus dem Gästegarten seines Hotelrestaurants ins Zimmer gestellt; früher hatte Tante Yeter das Zimmer mit Betonfußboden als Büro des Hotels benutzt, jetzt arbeitete sie im neuen Anbau mit den elf Doppelzimmern, von dessen Balkonen man einen Streifen des Strandes von Sile sehen konnte.
Ayfer ging mit ihrem Gesicht so nahe an das Fenster heran, bis das Glas beschlug. Eine der Katzen war größer als die anderen, sie hielt sich von der fauchenden Meute fern und blickte zu ihr hoch. Sie sah aus, als warte sie auf etwas. Ayfer trat schnell vom Fenster zurück, weil ihre Tante Yeter den Hof betrat, um heimlich zu rauchen. Von den köfte , die ihr Yeter nach Einbruch der Nacht gebracht hatte, war nichts mehr übrig, das zeytinyagh hatte sie nicht angerührt. Sie konnte gekochtes Gemüse nicht ausstehen, schon gar nicht, wenn es kalt gegessen wurde. Sie hörte die Stimme ihrer Tante auf dem Hof, sie redete leise mit sich selber, wie oft, wenn sie alleine war und sich unbeobachtet fühlte. Vor ein paar Tagen war es Ayfer gelungen, unbemerkt nahe genug an Yeter heranzukommen, als die mit sich selber redete, und hatte gehört, dass sie einen Fluch nach dem anderen ausstieß, mit leiser, aber scharfer Stimme, Flüche, die nicht einmal Großvater Bekir verwendet hatte, so schlimm waren sie.
Ayfer machte das Licht aus und trat vorsichtig ans Fenster; die rote Glut der Zigarette verriet, dass Yeter hinter dem Container mit den leeren Glasflaschen kauerte. Ayfer legte sich im Dunkeln aufs Bett, schob sich die Muscheln derKopfhörer von Urbanears über die Ohren und startete die Musik. Ihr Vater hatte ihr die Kopfhörer und den iPod nano vor dem Abflug nach Istanbul als Ersatz für ihr Handy geschenkt, das er ihr abgenommen hatte, damit sie nicht mit ihrem Freund Davor in der Schweiz reden konnte. Ihre Sehnsucht nach Davor war manchmal so groß, dass sie sich in den Handrücken beißen musste, um nicht aufzuschluchzen. Am Tag vor ihrer Abreise hatte er ihr erzählt, es gebe eine Waffe, die Menschen bei lebendigem Leib koche, so eine wünsche er sich, um ihren Vater für immer aus dem Weg zu räumen. Er hatte ihr versprochen, kein anderes Mädchen auch nur anzusehen, geschweige denn anzufassen oder gar zu küssen.
Seit sie in der Türkei war, gefiel ihr nicht mehr die gleiche Musik wie früher. In Suhr hatte sie vor allem türkische Sänger und Sängerinnen gehört, Murat Boz, Hadise, Tarkan und Tuba Büyüküstün, aber seit sie in Sile war, ging ihr die türkische Musik auf die Nerven, und sie hörte immer wieder die drei gleichen Songs, süchtig nach
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