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Walden Ein Leben mit der Natur

Walden Ein Leben mit der Natur

Titel: Walden Ein Leben mit der Natur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry David Thoreau
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Erdscholle zu Erdscholle gesprungen, von Weidenwurzel zu Weidenwurzel, wenn das wilde Flußtal und die Wälder in einem so reinen, hellen Licht gebadet lagen, daß es Tote geweckt haben müßte, wenn sie in ihren Gräbern geschlummert hätten, wie manche glauben. Es bedarf keines stärkeren Beweises der
    Unsterblichkeit. In solch einem Licht muß alles leben. Tod, wo war dein Stachel? Hölle, wo war da dein Sieg?
    Das Leben in unseren Ortschaften würde bald ins Stocken geraten, gäbe es nicht die unerforschten Wiesen und Wälder ringsum. Wir brauchen die freie Natur als Tonikum - wir müssen manchmal durch Sümpfe waten, in denen die Rohrdommel und der Lerchensterling versteckt leben, und den Ruf der
    Sumpfschnepfe hören; wir müssen den Duft des raunenden
    Schilfs einatmen, in dem noch zurückgezogenere, einsamere Vögel nisten und der Nerz mit dem Bauch dicht auf dem Boden kriecht. Mit demselben Ernst, mit dem wir alles zu erforschen und zu erfahren suchen, verlangen wir gleichzeitig, daß alles geheimnisvoll und unergründlich bleibe, daß Land und Meer von uns nicht erforscht würden, weil sie unerforschlich sind. Wir können nie genug Natur um uns haben. Wir müssen uns an
    dem Anblick ihrer unerschöpflichen Lebenskraft erquicken, an ihren titanischen Formen, am Meeresstrand mit seinen
    Schiffstrümmern, an der Wildnis voll lebendiger und
    absterbender Bäume, an den Gewitterwolken, dem Regen, der drei Wochen lang dauert und das Land überschwemmt. Wir
    müssen erkennen, daß unsere eigenen Grenzen überschritten werden, daß dort frei ein Leben weidet, wo wir nie hingelangen.
    Wir begrüßen es, daß der Geier das Aas frißt, das uns anekelt und bedrückt, und daß diese Mahlzeit ihn gesund und kräftig
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    erhält. In einem Graben auf dem Weg zu meinem Haus lag
    einmal ein totes Pferd, das mich besonders in schwülen
    Nächten zu einem Umweg zwang, doch die Bestätigung, die mir dieser Anblick für den mächtigen Appetit und die
    unüberwindliche Gesundheit der Natur gab, entschädigte mich dafür. Es erfüllte mich mit Freude, daß die Natur so überreich an Leben ist, daß Myriaden geopfert und einander zur Beute überlassen werden können; daß zarte Organismen so gelassen ausgelöscht werden können, wie man Früchte zerquetscht -
    Kaulquappen von Reihern verschlungen, Kröten und
    Schildkröten auf den Straßen überfahren werden, und daß es manchmal Fleisch und Blut geregnet hat! Indem das Leben so dem Zufall unterworfen ist, müssen wir erkennen, wie wenig Bedeutung ihm zukommt. Der Weise wird darin die
    allumfassende Unschuld der Natur erkennen. Gift ist nicht giftig letzten Endes, noch gibt es Wunden, die verhängnisvoll sind.
    Mitleid ist kein sehr haltbarer Boden. Man muß schnell darüber hinweggehen. Seine Stimme läßt sich nicht schematisieren.
    In den ersten Maitagen verbreiteten Eichen, Nußbäume,
    Ahorne und andere Bäume, die gerade mitten unter den Kiefern um den See ausschlugen, einen Glanz über die Landschaft wie Sonnenschein; besonders an bewölkten Tagen sah es aus, als breche die Sonne durch den Nebel und bescheine da und dort sanft den Hang. Am dritten oder vierten Mai entdeckte ich einen Eistaucher im See, und die ganze erste Woche hindurch hörte ich die Nachtschwalbe singen, die braune Spottdrossel, die Wilsondrossel, den Rundrötel und andere Sänger. Die
    Walddrossel hatte ich schon viel früher vernommen. Die
    Lachmöwe war auch wieder da und schaute zu Tür und Fenster herein, um sich zu überzeugen, ob mein Haus höhlenartig genug für sie sei. Von ihren kräftigen Flügeln getragen, die Krallen eingeschlagen, als hielte sie sich in der Luft fest, musterte sie die Lokalität. Die schwefelgelben Pollen der Pechkiefern bedeckten bald den See, die Steine und das
    morsche Holz am Ufer; man hätte sie faßweise sammeln
    können. Das ist der sagenhafte »Schwefelregen«. Auch in Kalidasas Drama ›Sakuntala‹ lesen wir von »Bächlein, gelb
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    gefärbt vom goldenen Staub des Lotos«. So rollte das Jahr auf den Sommer zu, wie einer in immer höheres und höheres Gras schreitet.
    Damit war mein erstes Jahr in den Wäldern zu Ende gegangen; das zweite verlief ähnlich. Schließlich, am 6. September 1847, verließ ich den Waldensee.
    XVIII.
    Endbetrachtung
    Kranken verordnet ein kluger Arzt Luftveränderung und
    Milieuwechsel. Dem Himmel sei Dank, unser Land ist nicht die ganze Welt. Die Roßkastanie kommt in Neuengland nicht vor, und die Spottdrossel ist hier

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