Waldesruh
kitschiges Porzellan.
Kurz, es war ein Haus, in dem man sich auf Anhieb wohlfühlte.
Emily trat wieder hinaus ins grelle Sonnenlicht und stapfte über den ungepflegten Rasen um das Haus herum. Eine Amsel flog zeternd auf.
Die drei Weyer-Geschwister standen mit dem Rücken zu ihr neben dem Gemüsebeet bei den Beerensträuchern und schienen etwas zu betrachten, das am Boden lag.
»Ah, hier seid ihr, ich habe euch schon gesucht«, rief Emily fröhlich.
Marie und Janna drehten sich in einer synchronen Bewegung nach ihr um. Sofort begriff Emily, dass etwas nicht stimmte. Janna, sonst immer ein spöttisches Lächeln auf den bemalten Lippen, war blass wie ein Ziegenkäse und blickte Emily mit lee rem Ausdruck an. Marie hatte die Augen weit aufgerissen, sie sah aus wie ein verschrecktes Käuzchen. Nur Moritz, der zwischen seinen Schwestern am Boden kauerte, verharrte bewegungslos in seiner Stellung und starrte durch seine schmutzigen Finger hindurch auf eine Gestalt.
Emily kam näher und presste erschrocken die Hände vor den Mund. Im zertretenen Gras lag Frau Holtkamp. Das sonst so akkurat frisierte Haar hing ihr wirr um den Kopf, ihr Gesicht war bleich und blutleer, die fahlen Lippen halb geöffnet, ein Spuckefaden zog sich den Mundwinkel hinab. Ihre Pupillen blickten starr in den Himmel.
Sie muss doch blinzeln, dachte Emily. Man kann nicht so in die Sonne starren, das tut doch weh.
Frau Holtkamp hielt die Hände vor der Brust verkrampft. Die braunfleckige Haut auf ihrem Handrücken sah aus wie zerknittertes Pergament. Zu ihren Füßen lag ein Korb mit schwarzen Johannisbeeren, er war umgekippt und sein Inhalt hatte sich über den Rasen verteilt.
Emily hatte noch nie eine echte Tote gesehen, nur im Fernsehen. Im Fernsehen kam in solchen Fällen immer ein Arzt und danach ging alles seinen Gang. Aber wo war hier der Arzt?
Marie löste sich aus ihrer Starre und sagte: »Moritz hat sie gefunden. Sie muss einen Herzanfall gehabt haben oder so was.«
Emily räusperte sich. »Ihr müsst den Notarzt rufen«, sagte sie und merkte, wie ihre Stimme zitterte.
»Wozu? Der kann Oma auch nicht mehr helfen. Sie ist tot. Sie atmet nicht mehr.« Janna kniete sich nieder und legte ihre Hand an die Stelle, an der die Halsschlagader der Toten sein musste. »Kein Puls«, sagte sie erstickt. »Nichts!«
Emily räusperte sich. »Der Arzt muss den Tod feststellen.«
Keine Antwort.
Nur Moritz begann auf einmal zu wimmern: »Was ist mit Oma? Warum bewegt sie sich nicht?«
Keine der beiden Schwestern reagierte. Wie gelähmt standen sie da und starrten ihre Großmutter an.
Emily streckte Maries Bruder die Hand hin. Sie fühlte sich heiß und feucht an. »Komm mit, Moritz, wir gehen ins Haus. Was meinst du, möchtest du ein bisschen fernsehen?«
»Oma sagt, ich darf das nicht am Nachmittag«, sagte er unsicher.
»Heute schon«, erwiderte Emily mit fester Stimme. »Heute machen wir eine Ausnahme.«
»Cool.« Er rannte los und Emily folgte ihm ins Haus. Im Flur war es kühl und sie blieb einen Moment stehen, um tief Luft zu holen. Doch Moritz war schon im Wohnzimmer, wo er sich auf das Sofa warf und gierig nach der Fernbedienung griff, als wäre sie ein Zauberstab, der ihn in eine andere Welt befördern würde.
Und ein bisschen ist es wohl auch so, dachte Emily.
»Alles in Ordnung, Moritz?«
Der Kleine nickte stumm, ohne wirklich auf sie zu achten. Emily blieb noch einen Moment bei ihm, aber etwas anderes, als ihn hilflos anzustarren, fiel ihr nicht ein. Sollte sie mit ihm darüber sprechen, was passiert war? Aber was verstand ein Siebenjähriger schon vom Tod?
Ich muss Janna und Marie fragen, dachte sie.
Als sie in den Garten zurückkehrte, standen Marie und Janna nicht mehr bei der Toten. Janna kauerte mit angezogenen Knien in der Hollywoodschaukel unter dem Apfelbaum. Marie stand vor ihr, ihre Hände rieben nervös ihre Oberarme, sie zitterte am ganzen Körper.
»Was passiert jetzt mit uns?«, fragte Marie gerade, als Emily zu ihnen trat.
»Ich weiß es nicht«, stöhnte Janna. »Das Übliche. Ein Heim. Pflegefamilien ...Essei denn, Mama kommt bald wieder raus.«
Mama? Hatte Marie nicht erzählt, dass ihre Eltern tot seien? Raus? Wo raus? War sie etwa im Gefängnis? Aber Emily blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Janna antwortete: »Das kannst du vergessen.« Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen und ihre Schultern zuckten. Die sonst so coole Sechzehnjährige sah so verloren und elend aus, dass Emily sich
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