Die Prophezeiung der Steine
Die Geschichte der Steinedeuterin
Es ist der Wunsch eines jeden, seine Zukunft zu kennen. Damit hat es vor Jahren angefangen, und damit hätte es enden können.
Ich hatte die Steine geworfen und ihre Seiten sich drehen und fallen sehen: Tod, Liebe, Mord, Verrat, Hoffnung. Wir sind ein Volk, bei dem Verrat eine große Rolle spielt - die Hälfte unserer Steine hat eine Seite, die das Symbol für Verrat, Gewalt sowie den Tod unserer Freunde oder unserer Feinde trägt. Bei anderen Völkern ist dies nicht so. Bei ihnen habe ich Steine mit anderen Symbolen gesehen, die nur natürliche Katastrophen zeigen: Tod durch Krankheit, aufgrund des Alters, durch den Schmerz eines gebrochenen Herzens, Tod im Wochenbett. Mehr als die Hälfte dieser Steine zeigen Symbole der Freude und dazu klare, bodenständige Mahnungen wie »Wer säet, der erntet« und »Sieg ist nicht das gleiche wie Befriedigung«.
Sicher, wir leben in einem Land, das gewaltsam eingenommen wurde, durch Schlachten, Mord und Eroberung. Vielleicht ist es gar nicht so überraschend, dass die Symbole auf unseren Steinen unsere Geschichte widerspiegeln.
Also warf ich die Steine und stellte mir dabei Fragen. Wie viel unserer Zukunft erfüllt sich erst durch diese Wahrsagerei? Wie viel davon lassen wir geschehen, weil die Steine uns eine Zukunft geben, die es zu erfüllen gilt?
Ich habe zu oft gesehen, wie Steine geworfen wurden, als dass ich ihr Urteil infrage stellen würde. Wenn ich Mord in den Symbolen der Steine sehe, dann weiß ich, dass jemand sterben wird. Aber würde dieser jemand auch ohne meine Vorhersage sterben? Vielleicht bringt allein das Aussprechen des Wortes, und sei es flüsternd, den Gedanken an die Oberfläche und erlaubt es dem Geist, ihn zu formen und mit Gehalt zu erfüllen, wo er andernfalls nur ein vages, leicht zu ignorierendes Gefühl geblieben wäre.
In jener Nacht kehrte das Symbol des Todes immer wieder. Um wessen Tod es sich handelte, fragte ich nicht. Vielleicht war es der meine, vielleicht auch nicht. Mir war niemand mehr geblieben, den ich hätte verlieren können, und deshalb hatte ich keine Angst davor, mich selbst zu verlieren.
Plötzlich stand jemand vor meiner Tür, heftig atmend und zu verängstigt, um hereinzukommen. Dann tat er es doch, wie es immer geschieht, getrieben von Liebe, Angst, Gier, Schmerz oder aus reiner Neugier oder dem Wunsch, gemeinsam mit Freunden Spaß zu haben.
Dieser nun trat schüchtern herein. Er war jung, achtzehn oder neunzehn, hatte braunes Haar, trug eine grüne Hose und blaue Stiefel. Mit der Ungezwungenheit eines Menschen, der gerade erst den Kinderschuhen entwachsen war, kauerte er sich mir gegenüber auf den Teppich. Ich streckte meine linke Hand aus, um sein Gesicht zu ertasten. Er hatte haselnussbraune Augen, doch seine Gesichtsform verriet, dass das Blut der Alten in ihm floss, des Volkes, das vor der Eroberung, vor der Invasion in diesem Land gelebt hatte. Auch alten Schmerz spürte ich in ihm, alte, aufgestaute Wut.
Er wusste, was zu tun war. Er spuckte sich in eine Handfläche, über die kreuz und quer Narben verliefen, als hätte er
sich viele Male geschnitten, und schlug sie in die meine. Ich hielt sie fest und langte mit meiner rechten Hand nach dem Beutel mit den Steinen. Der Besucher war stark genug, die Stille zu ertragen, während ich fünf Steine aus dem Beutel holte und auf das Tuch warf, das zwischen uns lag. Er war sogar stark genug, um ihren Fall nicht mit den Augen zu verfolgen, und hielt meinem Blick stand, bis ich ihm zunickte und hinunterschaute.
Er sah es meinem Gesicht an.
»Schlecht?«
Ich nickte. Nacheinander berührte ich die mit der Bildseite nach oben liegenden Steine. »Tod. Verlust. Verwirrung. Das ist die Oberfläche. Das ist das, was man sieht.« Vorsichtig drehte ich die beiden anderen Steine um. »Rache und Jubel. Das ist das, was darunterliegt.« Eine sonderbare Konstellation, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte.
Er grübelte, stellte aber keine Fragen mehr. Die Steine sprachen nicht zu mir, wie sie es sonst häufig tun; ich konnte ihm lediglich ihre Bezeichnung sagen. Es schien ihm zu genügen.
»Du weißt, worauf sich das bezieht, was es bedeutet?«, fragte ich.
Er nickte geistesabwesend und starrte dabei auf das Symbol für Jubel. Er ließ meine Hand los und stand behände auf. Dann holte er einige Münzen aus seiner Tasche und ließ sie auf den Vorleger fallen.
»Meinen Dank, Steinedeuterin.« Dann war er verschwunden.
Wer
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